Maßgeschneiderte KI statt Massenware

Gesundheitsversorgung benötigt spezialisierte digitale Lösungen

22. August 2025, 7:30 Uhr | Jörg Schröper
© Gorodenkoff - shutterstock.com

KI im Gesundheitswesen kommt nur langsam voran. Oft wird über eine wachsende Zahl an Anwendungen gesprochen, die jedoch kaum echten Fortschritt bringen. Andreas Cleve, CEO und Mitgründer von corti.ai, erklärt, warum ChatGPT & Co. für den professionelle Einsatz im Gesundheitswesen ungeeignet sind.

Der mangelnde Fortschritt liegt laut Cleve nicht daran, dass es zu viele KI-Anwendungen gibt. Es fehlen laut dem Experten vielmehr Lösungen, die wirklich auf den medizinischen Alltag zugeschnitten sind. Standardanwendungen stoßen schnell an ihre Grenzen – vor allem in einem Umfeld, das stark durch Spezialisierung und hohe fachliche Anforderungen geprägt ist.„Das Gesundheitswesen ist komplex und vielfältig. Es besteht aus unzähligen spezialisierten Bereichen mit individuellen Anforderungen. Dennoch entstehen immer wieder generische KI-Systeme, die ähnliche Aufgaben in unterschiedlichen Fachbereichen nur oberflächlich lösen“, so Cleve. „Dabei gehört die Medizin zu den am stärksten spezialisierten und sich am schnellsten entwickelnden Branchen überhaupt. Das medizinische Wissen verdoppelt sich alle 73 Tage. Ärztinnen und Ärzte verbringen viele Jahre damit, sich auf ein Fachgebiet zu spezialisieren. Vor diesem Hintergrund reichen einfache Standardlösungen nicht aus. Stattdessen braucht es gezielte Anwendungen für konkrete Fachgebiete.“

Warum viele KI-Anwendungen selten über die Testphase hinauskommen

Trotz des großen Potenzials sei der praktische Einsatz von KI in der Gesundheitsversorgung noch die Ausnahme. In Europa hat nur jede fünfte medizinische Fachkraft im vergangenen Monat überhaupt mit KI gearbeitet. In den USA verbringen rund ein Drittel der Beschäftigten in der Versorgung bis zu drei Stunden pro Woche damit, Fehler von KI-Systemen zu korrigieren.

„Oft heißt es, das Gesundheitswesen stehe digitalen Innovationen skeptisch gegenüber. Doch das trifft nicht den Kern. Krankenhäuser investieren regelmäßig in modernste Medizintechnik. Das eigentliche Problem ist, dass viele KI-Anwendungen entweder ungenau oder zu kostenintensiv sind. Damit bieten sie im Alltag keinen echten Mehrwert“, so Cleve weiter.

Das Scheitern liege nicht an einer generellen Ablehnung neuer Technik, sondern an mangelnder Spezialisierung. Nur wenn eine KI ein medizinisches Problem mit hoher Genauigkeit löst, werde sie langfristig eingesetzt.

Software muss sich an Fachkräfte anpassen – nicht umgekehrt

„Zukunftsfähige KI-Systeme müssen speziell für die medizinische Praxis entwickelt werden. Sie sollen so verlässlich arbeiten, dass sie sich nahtlos in den Arbeitsalltag integrieren lassen. Der entscheidende Unterschied: Diese Software lernt mit und wird durch jede Nutzung besser auf individuelle Abläufe abgestimmt.“

Als Beispiel nennt Cleve: „Eine orthopädische Chirurgin nutzt etwa ein System, das nicht nur die Fachsprache versteht. Es erkennt auch typische Muster in Behandlungsverläufen und passt sich an die spezifischen Arbeitsweisen in ihrer Praxis an. Gleichzeitig prüft es Entscheidungen anhand aktueller Erkenntnisse aus der orthopädischen Forschung. Auch in der Pflege zeigt sich das Potenzial: Eine onkologische Pflegekraft arbeitet mit einem Dashboard, das automatisch auf ihre Art der Informationsverarbeitung in Stresssituationen reagiert. Im Hintergrund erkennt eine spezialisierte KI mögliche Medikamentenwechselwirkungen – auch solche, die selbst erfahrenen Fachkräften entgehen könnten.“

Diese Anwendungen bieten nicht nur Komfort. Sie sorgen für spürbare Effizienzgewinne in einem Umfeld, in dem jede gewonnene Minute zu besseren Behandlungsergebnissen führen kann.

Wie spezialisierte KI die Patientenversorgung verbessert

„Die großen Technologietrends zeigen: Die Zukunft gehört maßgeschneiderter Software. Ein aktuelles Beispiel ist das sogenannte Vibe-Coding – also die Entwicklung von Software per Spracheingabe. Damit lassen sich digitale Anwendungen auf Fachbereiche, Teams oder sogar Einzelpersonen zuschneiden“, so der Experte.

Diese Hyperpersonalisierung mache es möglich, bestehende Arbeitsabläufe präzise digital abzubilden und gezielt zu verbessern. Spezialisierte KI bedeute nicht nur eine neue Benutzeroberfläche, sondern die Kombination aus fachspezifischem Wissen und technischer Anpassung. Die Aufgabe der Anbieter sei es, stabile Lösungen zu entwickeln, die sich zuverlässig in spezialisierte Arbeitsumgebungen integrieren lassen.

„Silver Tsunami“ und Fachkräftemangel erhöhen den Druck

Die aktuellen Entwicklungen im Gesundheitswesen machen den Bedarf an spezialisierten Lösungen besonders deutlich. Bereits heute denkt jede vierte medizinische Fachkraft regelmäßig über einen Berufswechsel nach. Bis 2030 wird ein weltweiter Mangel von zehn Millionen Ärztinnen und Ärzten prognostiziert. Gleichzeitig nimmt das medizinische Wissen in rasantem Tempo zu. Ohne technologische Unterstützung ist es für Fachkräfte kaum möglich, auf dem aktuellen Stand zu bleiben.

Hinzu kommt der sogenannte „Silver Tsunami“. Die wachsende Zahl älterer Menschen mit komplexem Pflegebedarf trifft auf eine schrumpfende Verfügbarkeit qualifizierter Fachkräfte. Diese Entwicklung stellt die Gesundheitsversorgung vor enorme Herausforderungen, denen allgemeine KI-Systeme nicht gerecht werden. Es braucht spezialisierte KI, die gezielt entlastet und Prozesse intelligent unterstützt.

A.Cleve
Andreas Cleve, CEO und Mitgründer von corti.ai: "Im Gesundheitsbereich bringen allgemeine KI-Anwendungen oft nicht den gewünschten Fortschritt. Die Zukunft gehört hochspezialisierten Systemen, die sich gezielt auf ein konkretes medizinisches Problem konzentrieren und es mit maximaler Präzision lösen."
© corti.ai

Wie spezialisierte Systeme Versorgungslücken schließen können

„Ein oft unterschätztes Potenzial liegt in der Weiterentwicklung der Patientenversorgung. In Industrieländern wie denen der OECD haben Patientinnen und Patienten im Schnitt nur rund 7,2 medizinische Kontakte pro Jahr. Durch spezialisierte KI-Lösungen könnte diese Zahl auf etwa 20 Kontakte steigen – ohne zusätzliches Personal und ohne zusätzlichen Aufwand“, erläutert Cleve.

Ein Beispiel ist eine KI für die postoperative Betreuung. Sie stellt täglich individuell angepasste Fragen, abgestimmt auf den jeweiligen Genesungsverlauf. Eine weitere Anwendung unterstützt bei der Medikamentenadhärenz. Sie hilft Patientinnen und Patienten dabei, ihre Medikamente zuverlässig einzunehmen und berücksichtigt dabei auch psychologische Hürden oder soziale Faktoren. Diese Systeme verbessern die Therapietreue, entlasten Fachkräfte und tragen zur Qualität der Versorgung bei.

Der nächste Schritt heißt Spezialisierung

Im Gesundheitsbereich bringen allgemeine KI-Anwendungen oft nicht den gewünschten Fortschritt. Die Zukunft gehört hochspezialisierten Systemen, die sich gezielt auf ein konkretes medizinisches Problem konzentrieren und es mit maximaler Präzision lösen. Dafür ist es notwendig, langfristig zu denken und die Komplexität medizinischer Prozesse genau zu verstehen. Wer sich dieser Aufgabe stellt, kann entscheidend zur Verbesserung der Patientenversorgung beitragen. 

Was jetzt passieren muss

„Die digitale Transformation des Gesundheitswesens hat gerade erst begonnen. Ihr Erfolg wird nicht durch eine große Standardlösung entschieden, sondern durch viele spezialisierte Anwendungen. Jede einzelne davon kann dazu beitragen, die Versorgungslücke zu schließen, die Arbeitsbelastung zu senken und die medizinische Qualität zu sichern. Jetzt ist der richtige Moment, um diese Entwicklung aktiv zu gestalten. Je früher gezielt in spezialisierte KI investiert wird, desto größer ist der Nutzen für Fachkräfte, Patienten und das System als Ganzes“, so Cleve abschließend.


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