Nachfrage nach Software steigt

Zeitenwende in der Automobilindustrie

14. September 2022, 13:00 Uhr | Autor: Tillmann Braun / Redaktion: Diana Künstler
© cheskyw - 123RF

Während Otto Normalverbraucher über die EU-Entscheidung zum Ende des Verbrenners grübeln, steht die Automobilbranche vor noch größeren Herausforderungen. Denn moderne Autos unterscheiden sich längst nicht nur im Antrieb. Der steigende Anteil von Software ist dabei Problem und Lösung zugleich.

Einen tiefen Einblick in die Sorgen und möglichen Lösungen bot das Prostep Symposium in Stuttgart1, wo sich das Who-is-who der internationalen Mobilitäts-Entwickler und Zulieferer traf. Vor über 30 Jahren gründete die Autobranche Prostep als Initiative, um einen gemeinsamen, herstellerneutralen Datei-Standard in der vielschichtigen Automobilbranche zu etablieren. Unterschiedliche Hersteller und OEMs sollten mit allen Zulieferern die gleiche Sprache beim Austausch von (Entwickler-) Daten nutzen. Dieses Ziel hat Prostep längst erreicht. Nun steht die Branche mit der Digitalen Transformation, dem autonomen Fahren und der stetigen Vernetzung vor neuen Herausforderungen, die diesen Interessenverband mehr fordert als je zuvor. Die Antriebsform oder die Reichweite von E-Autos gehören dabei eher zu den kleineren Problemen, die auf der Veranstaltung diskutiert wurden und die Branche noch weiter beschäftigen werden. Der Fokus lag auf jeden Fall auf anderen Herausforderungen.

Updates bedienen die Ansprüche der Kunden

Zu einer der größten Herausforderung der Automobilbranche gehört die Nachfrage nach mehr Software. Dies betrifft vor allem die Entwicklung von neuen Autos und Modell-Reihen, aber auch die stetigen Software-Updates über den gesamten Lebenszyklus eines Autos. Zu den großen Vordenkern der notwendigen Software-Architektur gehört dabei Jan Bosch, Professor für Softwaretechnik an der Universität Groningen und der Technischen Universität Chalmers. „Es reicht nicht mehr aus, das beste Auto zum Zeitpunkt des Kaufes zu bieten“, gibt Jan Bosch zu bedenken „Auch ein Auto muss sich heutzutage über den Nutzungszeitraum weiterentwickeln und für den Kunden interessant bleiben“, mahnt Jan Bosch.

Jan Bosch: „Die Autoindustrie muss das Tempo der Software-Entwicklung dramatisch erhöhen und mit den zur Verfügung stehenden Daten ein attraktives Eco-System entwickeln. Der Schlüssel liegt dabei in der Entwicklung.“

Gemeinsam mit seinem Team beschäftigt sich der niederländische Informatiker seit Jahren mit Software für die Entwicklung in Produktlinien (PLE) wie es in der Zulieferbranche bereits vielerorts üblich ist. „Kunden wünschen sich beim Auto nicht nur ein Höchstmaß an Individualisierung, sondern auch stetige Verbesserungen, wie sie es beispielsweise von der Consumer-Elektronik längst gewohnt sind“, so Jan Bosch. „Die Autoindustrie muss das Tempo der Software-Entwicklung dramatisch erhöhen und mit den zur Verfügung stehenden Daten ein attraktives Eco-System entwickeln. Der Schlüssel liegt dabei in der Entwicklung“, betont der Experte.

Für die Entwicklung ist ein immer weiterwachsender Anteil von Software potenziell allerdings problematisch. Denn je mehr Software ins Spiel kommt, desto unübersichtlicher wird die Entwicklung. Zumindest dann, wenn herkömmliche Methoden und Mittel eingesetzt werden.  

Software hilft Software zu kontrollieren

Bereits seit Jahren wächst der Anteil an Software in modernen Autos immer weiter. Damit wird die Entwicklung von Komponenten, Autos und ganzen Baureihen so komplex, dass viele Autobauer und Zulieferer an ihre Grenzen stoßen. Die einzelnen Bauteile müssen schließlich zueinander passen und aufeinander abgestimmt sein. Das wird umso schwieriger, je mehr Modelle gepflegt werden müssen. Die individuellen Kundenwünsche kommen noch hinzu. Letztlich entstehen so Zehntausende von Varianten, die sich oftmals gegenseitig ausschließen. Zu den Profiteuren des stetig steigenden Software-Anteils gehört deshalb auch das deutsche Unternehmen Pure-Systems, das sich auf das Management von Varianten in der Entwicklung spezialisiert hat. Seit über 20 Jahren entwickelt das Magdeburger Unternehmen Lösungen, die Varianten und alle Abhängigkeiten von Anforderungen über Design und Umsetzung bis hin zu Prototypen und Tests überwacht.

Danilo Beuche, Pure-Systems
Danilo Beuche, Mitgründer von Pure-Systems: „Mit jeder neuen Zeile Software-Code steht die Entwicklung vor neuen Problemen.“
© Pure-Systems

„Mit jeder neuen Zeile Software-Code steht die Entwicklung vor neuen Problemen,“ weiß Danilo Beuche, Honorarprofessor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig und Mitgründer des Software-Spezialisten für Varianten-Management. „Abhängigkeiten von mechanischen oder elektronischen Bauteilen zu überblicken und zu pflegen ist bereits eine große Herausforderung. Mit immer mehr Software wird die Entwicklung ohne adäquate Lösungen schnell unbeherrschbar, was unvermeidlich zu Fehlern führt“, erklärt Beuche.

Bei genauer Betrachtung beschränken sich diese Herausforderungen allerdings keineswegs auf die Automobilindustrie. Von Flugzeugen über Industrieanlagen bis hin zu Alltagsgeräten wie Smartphones oder Kaffeemaschinen steigt der Software-Anteil und damit die Komplexität bei der Entwicklung nahezu in allen Branchen und Bereichen an. Die Software-Lösung des Magdeburger Unternehmens hilft deshalb unter anderem auch den Entwicklern bei Bosch, ZF, Continental und Airbus. Durch die leichte Integration von Software-Tools wie IBMs Doors, Siemens Polarion, Dassaults Cameo und anderer Lösungen können die Produkte und Modell-Reihen dabei abteilungsübergreifend entwickelt werden, ohne dass es zu Fehlern oder Konflikten bei den verschiedenen Varianten kommt.

Neues wagen

Joachim Christ, Director Marketing und Sprecher von Prostep sieht in den vielen neuen Herausforderungen, die die Automobilindustrie zu meistern hat, auch zahlreiche Chancen und empfiehlt ein Umdenken. „Möglicherweise ist ein ganzheitlicher Ansatz bei der Hardware- und Software-Entwicklung erforderlich, der alle Aspekte der Digitalisierung betrachtet – vom Produkt Lifecycle Management und der Systementwicklung über den Digitalen Zwilling bis hin zu Fahrassistent-Systemen und autonomen Fahren“, empfiehlt Joachim Christ. Der revolutionären Serienproduktion eines Henry Fords vor über 100 Jahren folgt nun also eine neue Zeitenwende in der Automobilbranche. Ford selbst hätte diese Entwicklung sicherlich begrüßt und mit vorangetrieben. Schließlich lautet das Leitmotto des Automobilpioniers: „Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.“

Tillmann Braun, freier Journalist

1 https://www.prostep-ivip-symposium.org/


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