Das Coronavirus stellt Bildungseinrichtungen hierzulande vor große Herausforderungen und setzt das Thema Digitalisierung ganz oben auf die (Schul-)Agenda. Von Vorreitern, Verhinderern und immersiven Lernformen: ein Interview über die aktuellen Pain Points der deutschen Bildungslandschaft.
funkschau: Spätestens seit Aufkommen von Covid-19 ist uns allen „Homeschooling“ ein Begriff. Was glauben Sie: Inwiefern hat diese Ausnahmesituation dem Bildungswesen hierzulande den Spiegel vorgehalten?
Wilfried Tollet: Die Corona-Pandemie hat dem Thema Digitalisierung eine ganz neue Dringlichkeit verliehen. Vieles, worüber zuvor nicht einmal nachgedacht worden war, steht jetzt ganz oben auf der Schulagenda. Die Ausnahmesituation hat als Spiegelbild ein veraltetes, desolates und hochgradig unfaires Bildungswesen reflektiert. Es fehlt den öffentlichen Schulen an allem: an schnellem Internet, an IT-Ausstattung und IT-Know-how sowie an Ressourcen, die die IT managen könnten. Es herrscht genereller Lehrermangel bei einer gleichzeitig bevorstehenden „Pensionierungswelle“. Und selbst junge Lehrkräfte sind nicht entsprechend ausgebildet, denn kaum ein Bundesland hat das Thema Digitales Lehren/Lernen in die Lehrerausbildung integriert. Schon vor der Krise war klar, dass es hier großen Handlungsbedarf gibt.
Der DigitalPakt Schule (Anm. d. Red.: siehe dazu auch der Artikel hier) war der Versuch einer Antwort der Politik darauf. Heute wissen wir, sie kam zu spät und zugleich war und ist die Beantragung der Mittel so kompliziert und überbürokratisiert, dass immer noch kaum etwas von den Milliarden bei den Schulen angekommen ist. Hier soll nach neuesten Meldungen jetzt schnell nachgebessert werden. Ganz aktuell, Stand 26. August 2020, hat der GroKo-Koalitionsausschuss zur digitalen Bildung die Ausstattung der insgesamt circa 800.000 Lehrer mit Notebooks, die Einrichtung digitaler Kompetenzzentren zur IT-Unterstützung von Schulen und den Aufbau einer bundesweiten, sicheren Bildungsplattform für alle Schüler beschlossen. Die Finanzierung dazu soll zusätzlich aus Mitteln des EU-Bildungsfonds kommen. Das sind Grundsatzentscheidungen auf Bundesebene, die in die richtige Richtung weisen – so sie denn tatsächlich und rasch von den zuständigen Ländern umgesetzt werden.
funkschau: An welchen Ländern könnten wir uns in Sachen digitale Bildung ein gutes Beispiel nehmen und warum?
Tollet: Weltweit liegen USA und Kanada beim Thema digitale Bildung sehr weit vorne, Vorreiter in Europa sind Großbritannien, Frankreich und die Niederlande. In Großbritannien, dem Sitz unserer Muttergesellschaft, kennen wir die Verhältnisse in den Schulen sehr genau. Dort ist der Bildungsbereich – verglichen mit Deutschland – um mindestens ein Jahrzehnt voraus. Bereits vor zwölf Jahren wurden da in praktisch allen Schulen (92 Prozent) Touchdisplays eingeführt. Heute werden dort die elektronischen Tafelaufschriebe in der Regel auf die Tablets gespiegelt, die alle Schüler im Klassenzimmer vor sich haben. Lerninhalte, Software, Apps – alles ist bereits auf einen echten digitalen Unterricht umgestellt. Und vor allem haben die englischen Lehrer ein digitales Mindset.
Hierzulande hingegen erleben wir es immer wieder, dass das Lehrpersonal selbst mit einem interaktiven Whiteboard klassischen Frontalunterricht mit Tafelaufschrieb macht: Statt des Schwamms benutzt es dann eben die Delete-Taste. Da nützt auch die beste Ausstattung nichts. Auch bei den Hunderten von Vorführungen, die wir auf Einladung der Schulleitung pro Jahr in Schulen veranstalten, stoßen wir mit großer Regelmäßigkeit auf jede Menge Skepsis und sogar glatte Ablehnung beim Lehrpersonal. Da muss sich dringend etwas in der Lehreraus- und -fortbildung ändern.
funkschau: Bildung ist in Deutschland nun mal Ländersache. Welche Konsequenzen hat das mit Blick auf die Digitalisierung des Bildungswesens? Macht es deren Realisierung leichter oder schwerer?
Tollet: Die Länderhoheit in der Bildung, die nach dem Krieg eingeführt wurde und damals Sinn machte als Reaktion auf die Nazizeit, ist heute für Schüler, Eltern und Lehrer deutschlandweit leider von Nachteil und ein großes Hindernis bei der flächendeckenden und einheitlichen Digitalisierung des Schulwesens. Nun ist angesichts der aktuellen Entwicklungen aufgrund der Pandemie die Politik in hohem Maße gefordert, Vergleichbarkeiten zu schaffen. Die neuesten Beschlüsse des GroKo-Koalitionsausschusses zur digitalen Bildung zeigen, dass zumindest der Bund seine Verantwortung verstanden hat. Auf die Umsetzung in den Ländern darf man gespannt sein.