Keine Branche kann heutzutage die Digitalisierung ignorieren. Selbst sehr persönliche und menschenzentrierte Bereiche wie das Gesundheitswesen verändern sich dadurch zunehmend. Digital-Verantwortliche von zwei Krankenkassen und einer Universitätsmedizin berichten.
Diese drei Digitalpioniere berichten:
connect professional: Was ist die größte Veränderung in Ihrer Organisation, die von der Digitalisierung ermöglicht wurde?
Diehl: Digitalisierte Prozesse verändern erheblich die Arbeitsabläufe im Krankenhaus. Das fängt noch vor der stationären Aufnahme an und begleitet den Patienten im gesamten Versorgungsprozess sowie nach der Entlassung. Grundsätzlich jedoch schafft die Digitalisierung die Möglichkeit Daten zu gewinnen und umfassend zu nutzen, ist also die Basis für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin. Diese Veränderung ist jetzt gerade noch in den Kinderschuhen, was zum einen an der späten Digitalisierung im Gesundheitswesen liegt und zum anderen an der erst sich langsam durchsetzenden Standardisierung. Der Impact, gerade auch durch Nutzung von neuen Datenquellen in Echtzeit wird gewaltig sein.
Rydzewski: Wir sprechen bei dem Thema Digitalisierung von einer doppelten Transformation. Denn sie betrifft einerseits vielfältige Veränderungen innerhalb der Barmer und andererseits die veränderten Bedürfnisse und Erwartungen der Versicherten. Um diesem Umstand gerecht zu werden, haben wir die Digitalagenda 2025 entwickelt. Sie bildet die Basis unserer Aktivitäten und beschreibt zudem die Vision von der Krankenkasse der Zukunft. Dabei geht es vor allem darum, unsere Kunden mit digitalen Angeboten und Services zu begeistern und neue Standards in der Versorgung zu schaffen. Beim Barmer-Kompass können Versicherte zum Beispiel immer transparent den Bearbeitungsstand ihres Antrags für Krankengeld, Zahnersatz oder Hilfsmittel online einsehen, um nur einige der Möglichkeiten zu nennen. Digitalisierung kann viele Prozesse beschleunigen. Im Vordergrund steht ein effizientes und intelligentes digitales Betriebsmodell.
Adolph: Unsere Organisation begann als Projekt der AOK-Gemeinschaft zur Umsetzung der elektronischen Patientenakte (ePA). Anfänglich reisten wir noch regelmäßig aus ganz Deutschland zu Meetings beziehungsweise ganzwöchiger Projektarbeit an. Inzwischen nutzen wir digitale Tools zur Zusammenarbeit, haben Prozesse und Strukturen umgestaltet und arbeiten nun zu 90 Prozent remote. Digitale Kommunikation ermöglicht effektive Teamarbeit und fördert die Balance von Beruf und Familie. Diese Flexibilität erleichtert Stellenbesetzungen, unabhängig vom Standort in Deutschland. Natürlich organisieren wir auch persönliche Treffen – sachgerecht und am Bedarf protestiert. Wir sind stolz, ein Beispiel gelungener Digitaler Transformation in der AOK-Gemeinschaft zu sein.
connect professional: Sehen Sie in der Digitalisierung auch Gefahren für das Gesundheitswesen?
Diehl: In den letzten Jahren hat sich die Anzahl der Cyberattacken durch die ubiquitär vorhandene Digitalisierung enorm gesteigert – Krankenhäuser waren davon nicht ausgenommen. Als Universitätsklinik waren wir bei den ersten Einrichtungen, die der entsprechenden Rechtsnorm der kritischen Infrastruktur unterlagen und haben bereits zweimal erfolgreich ein KRITIS-Audit bestanden. Einen 100-prozentigen Schutz vor Hackerangriffen gibt es jedoch nicht, ebenso gibt es auch keinen 100-prozentigen Schutz vor menschlichen Fehlern oder weiteren Fehlerquellen wie zum Beispiel der Gesundheitsdatenmisinterpretation, Verzerrungseffekte (Bias), fehlerhafte Datennutzung oder fehlerhafte Übersetzung von analogen in digitale Prozesse.
Rydzewski: Wichtig ist, dass immer die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen. Die Barmer beschäftigt sich intensiv sowohl mit den Einsatzmöglichkeiten als auch mit den Chancen digitaler Anwendungen. Doch jede große Veränderung bringt auch Risiken mit sich. Deshalb brauchen wir Orientierung und ethische Leitplanken. Die Barmer hat im Jahr 2020 einen Kanon an Werten aufgestellt, der beschreibt, in welchem ethischen Rahmen wir den digitalen Fortschritt mitgestalten wollen. Seit Dezember 2021 ist die Barmer zudem als einzige Krankenkasse Mitglied der Initiative Corporate Digital Responsibility des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz.
Adolph: Natürlich bringt die Digitalisierung auch Herausforderungen für das Gesundheitswesen mit sich – insbesondere bei der individuellen Einstellung zum Datenschutz und zu Veränderungen im Allgemeinen. Der Widerstand gegen Veränderungen könnte sich aber als größere Hürde herausstellen. Deutschland sollte digitale Chancen nutzen und nicht den Anschluss verlieren. Denn ein Unterlassen beziehungsweise Verzögern wird langfristig zu einer schlechteren Behandlungs- und Betreuungsqualität unserer Patientinnen führen. Deshalb pflegen wir einen engen Austausch und Kontakt zu den Leistungserbringern und unterstützen sie aktiv bei den Prozessen der Digitalisierung, insbesondere in Bezug auf die elektronische Patientenakte und der dringend benötigten digitalen Identität.
connect professional: Wie bringen Sie Ihrer Belegschaft die Digitale Transformation näher?
Diehl: Die Universitätsmedizin Essen ist Vorreiter in Sachen Smart Hospital und mittlerweile auf dem Newsweek Ranking auf Platz 5 in Europa. Das ist definitiv ein Standortvorteil für die Rekrutierung von neuem Fachpersonal. Zudem wurde mit der FOM Hochschule ein Studiengang „Pflege & Digitalisierung“ entwickelt, mit dem wir Teilen unserer Belegschaft kostenfrei Zugang zur Fortbildung in Digitalisierung ermöglichen. Auch unterstützen speziell geschulte Teams, die aus der Krankenpflege in die Zentrale IT gewechselt haben, die Einführung von digitalen Tools auf dem Campus. Der wichtigste Baustein ist jedoch eine moderne Führungskultur mit interprofessionellen Teams und Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
Rydzewski: Um die Kunden auf dem Weg in die digitale Gesundheitswelt zu begleiten, müssen auch die Mitarbeitenden sicher und kompetent im Umgang mit digitalen Services sein. Um die Bedingungen hierfür zu schaffen und auszubauen, sind aktuell etwa 600 Barmer-eigene DigiCoaches im Einsatz. Koordiniert und begleitet werden die DigiCoaches von der 2017 gegründeten Innovationsabteilung der Barmer. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen tragen diese Digital-Multiplikatoren in allen Einheiten der Barmer die Digitalisierung und den damit verbundenen Kulturwandel in die Kollegenschaft und unterstützen diese dabei, Digitalkompetenz auf- und auszubauen.
Adolph: Wir vermitteln nicht nur die Funktionsweise unseres Gesundheitsökosystems „AOK Mein Leben“ einschließlich der elektronischen Patientenakte, sondern setzen sie in einen größeren Kontext. Wir erklären den konkreten Nutzen im Alltag und verschweigen auch die erkannten Herausforderungen in der Benutzung nicht. Und wir geben Handreichungen und Hilfestellungen – auch per Video. So entwickeln unsere Mitarbeitenden ein umfassendes Verständnis für die ePA und deren Wert für die Behandlung von morgen. Zudem können den Transformationsprozess mit eigenen Ideen mitgestalten. All dies hilft ihnen, unseren Kunden die Vorteile der Digitalisierung näher zu bringen. Unser Ziel ist eine partizipative Kultur, denn dezentrale Ideen bereichern die Transformation, davon profitiert die Gesundheitsversorgung und damit alle Menschen.
connect professional: Gibt es einen Bereich im Gesundheitswesen, der sich nicht digitalisieren lässt?
Diehl: Pflege, empathische Zuwendung, menschliche Nähe und direkte Kommunikation sind die wichtigsten Bausteine der Krankenversorgung und lassen sich keinesfalls digitalisieren. Digitalisierung ermöglicht es, viele Prozesse zu standardisieren und durch Effizienz (zum Beispiel in der digitalen Dokumentation) mehr Zeit für diese analogen Prozesse zu schaffen, die im Gesundheitswesen oberste Priorität haben, da sie die Grundlage für den Behandlungserfolg bilden. Bei einer demographischen Zunahme von chronisch Erkrankten und gleichzeitiger Abnahme von medizinischem Personal ist daher die Unterstützung durch Digitalisierung enorm wichtig, um mehr Zeit für empathische Medizin zu schaffen.
Rydzewski: Digitalisierung ermöglicht bisherige Versorgungspfade und Betreuungsabläufe neu zu denken. Sie ist allerdings kein Selbstzweck. Zuerst kommt immer der Mensch. Die Barmer will durch Digitale Transformation dort erkennbare Mehrwerte für alle Versicherten schaffen, wo das möglich und zugleich nachweislich sinnvoll ist. Bei Bedarf wird aber auch bewährten analogen Kanälen der Vorzug vor dem digitalen Weg gegeben, wenn die Kunden es bevorzugen. Was letztlich im Gesundheitswesen benötigt wird, sind eine strikte Kundenzentrierung und echte Mehrwerte. Dafür ist es wichtig, dass sich der enge regulatorische Rahmen der Lebensrealität und dem digitalen Fortschritt annähert.
Adolph: In der heutigen Zeit lässt sich nahezu alles digitalisieren – Daten, Prozesse, sogar umfassende Diagnosen. Dennoch bleibt Gesundheit – erst recht wenn sie fehlt – ein höchst persönliches und lebensbestimmendes Gut und hat eine unersetzliche Komponente: die zwischenmenschliche Interaktion. Empathie, individuelle Betreuung und Verständnis für Patientenbedürfnisse erfordern bedarfsgerecht eine menschliche Präsenz. Diese Verbindung ist grundlegend für die Zufriedenheit mit unseren analogen und digitalen Leistungen und schafft Kundenloyalität und Vertrauen. Trotzdem spielt die Digitalisierung hier eine entscheidende Rolle: Sie verschafft den medizinischen Fachkräften mehr Zeit für Behandlung und unseren Kundenbetreuerinnen und Kundenbetreuern Möglichkeiten für orientierungsgebende Gespräche.