Eine starke IT-Community, Spitzenforschung und eine dynamische Start-up-Kultur – Bochum hat viel zu bieten. Doch nicht jeder weiß davon. Über die Chancen und Herausforderungen einer unterschätzten Region.
Während bekannte Tech-Hubs wie Berlin oder München regelmäßig Schlagzeilen machen, bleibt Bochum oft im Schatten. Doch die Stadt im Herzen des Ruhrgebiets hat so einiges zu bieten – als IT-Standort wird sie allerdings immer noch unterschätzt. Denn Bochum hat sich in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend gewandelt. Einst für Kohle und Stahl bekannt, gilt die Region mittlerweile als aufstrebender Standort für IT-Sicherheit und technologische Innovation. Ermöglicht wurde diese Transformation durch gezielte Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur.
connect professional hat sechs Vertreter aus Wirtschaft und Forschung zu Bochum befragt, um die besonderen Standortvorteile der Stadt sowie deren Herausforderungen aufzuzeigen – und um zu thematisieren, wie sie sich langfristig als führender IT-Standort positionieren kann.
Die Transformation Bochums ist eng mit der Geschichte des Ruhrgebiets verbunden. Jahrzehntelang galt die Region als industrielles Herz Deutschlands, bekannt für Bergbau und Stahlproduktion. Doch der Niedergang dieser Industrien im späten 20. Jahrhundert zwang Städte wie Bochum, sich neu zu erfinden. Heute steht die Stadt für Innovation, Forschung und technologischen Fortschritt. Bochum hat sich insbesondere im Bereich IT-Sicherheit positioniert, einem Sektor, der aufgrund der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche rasant wächst. „Das vorhandene IT-Sicherheitsökosystem ist in Bochum unschlagbar. Wir haben einen Dreiklang aus einem der größten und erfolgreichsten Forschungsinstitute mit dem Horst-Görtz-Institut für IT-Sicherheit an der Ruhr-Uni Bochum, vielen innovativen Start-ups und bereits etablierten Unternehmen. Hierdurch hat man für alle Bereiche die geballte Expertise an einem Ort“, sagt Friederike Schneider von CarByte. Die Kehrtwende begann mit der Gründung des Horst-Görtz-Instituts (HGI) für IT-Sicherheit an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) im Jahr 2002. Das HGI, heute eines der größten und renommiertesten Forschungszentren für Cybersicherheit in Europa, legte den Grundstein für Bochums Aufstieg in der IT-Branche. „Bochum hat sehr früh, seit dem Jahr 2001, am Aufbau des Themas IT-Sicherheit gearbeitet“, führt Prof. Dr.-Ing. Christof Paar vom Max-Planck-Institut weiter aus.
Damals wurde das HGI mit drei Stiftungsprofessuren gegründet sowie die ITS-Studiengänge eingerichtet. Seitdem ist die Cybersicherheit systematisch ausgebaut worden. „Diese lange Aufbauphase hat zu zwei ‚Paukenschlägen‘ geführt, nämlich die Einrichtung des MPI-SP und des Exzellenzclusters CASA – beide sowohl einzigartig in Deutschland als auch international viel beachtet“, so Paar. Beim MPI-SP handelt es sich um das Max-Planck-Institut für Sicherheit und Privatsphäre. Das CASA (Cyber Security in the Age of Large-Scale Adversaries) ist das Zentrum für wegweisende IT-Sicherheitsforschung an der Ruhr-Universität Bochum.
Ein weiterer zentraler Faktor ist die Bündelung von Kompetenzen am Innovationsstandort Mark 51°7, wo Unternehmen wie Volkswagen Infotainment, Bosch ETAS und eine Vielzahl von Start-ups in direkter Nachbarschaft zu führenden Forschungsinstituten agieren. Dies fördert Synergien und schafft eine einzigartige
Innovationslandschaft.
Fest steht: Ein entscheidender Pluspunkt Bochums ist die hohe Dichte an Forschungseinrichtungen und Hochschulen. Neben der Ruhr-Universität Bochum gibt es über 20 weitere Hochschulen im Ruhrgebiet, die Fachkräfte ausbilden und Forschung auf höchstem Niveau betreiben. Das HGI, das Research Department der RUB, hat Friederike Schneider zufolge „mit rund 1.000 Studierenden nicht nur eines der Besten, sondern auch eines der größten Ausbildungsprogramme Europas“. Diese starke akademische Basis hat dazu geführt, dass viele erfolgreiche Start-ups in Bochum entstanden sind. Physec und VMRay sind Beispiele für Unternehmen, die direkt aus der Forschung heraus gegründet wurden und heute weltweit agieren. Die enge Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Unternehmen trägt ebenfalls zur Fachkräftesicherung bei. Tobias Nadjib von Cariad (Eigenschreibweise „CARIAD“) hebt hervor, wie wichtig diese Verknüpfung für die Ausbildung der nächsten Generation von IT-Fachkräften ist. „Auf einer gut gelegenen Fläche befinden sich ein Max-Planck-Institut (MPI), mehrere IT-Unternehmen und die RUB mit ihrer doppelten Ausrichtung in Softwareentwicklung und Cybersecurity. Diese Bündelung der richtigen Kompetenzen trifft auf eine ohnehin gute Verkehrsanbindung und eine passende Infrastruktur. Bochum ist somit wirklich ein Sweetspot für die Arbeit, die wir machen“, ergänzt er.
Bochum liegt im Herzen des Ruhrgebiets, einer der größten Metropolregionen Europas mit rund fünf Millionen Einwohnern. Die Nähe zu Städten wie Dortmund, Essen und Düsseldorf ermöglicht eine schnelle Vernetzung und Zusammenarbeit. „Die Stadt […] kann auf Synergieeffekte mit den anderen Städten der Metropole zurückgreifen. Es gibt mit anderen Worten eine Wechselwirkung zwischen den einzelnen Gebietseinheiten mit ihren jeweiligen Stärken“, führt Nadjib weiter aus. Das bringt viele Vorteile mit sich. Die individuellen Städte könnten zudem von der regionalen Einheit profitieren, wofür allerdings der Wille zur Kooperation und die gemeinsame Entwicklung von Win-Win-Situationen wichtig wären.
Die zentrale Lage in Nordrhein-Westfalen bringt auch wirtschaftliche Vorteile: NRW ist mit über 18 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands und Heimat vieler großer Unternehmen. Zehn der 30 DAX-Unternehmen haben ihren Sitz in Nordrhein-Westfalen, was zusätzliche Kooperationsmöglichkeiten bietet. NRW ist zudem ein wichtiger Industriestandort, was für branchenübergreifende Innovationen von Vorteil ist, etwa in den Bereichen Gesundheitswesen und Automobil.
Im Vergleich zu anderen deutschen Städten sind die Lebenshaltungskosten in Bochum moderat bei gleichzeitig hoher Lebensqualität. Günstige Mieten und ein breites kulturelles Angebot machen die Stadt besonders attraktiv für junge Talente. Hinzu kommen kurze Wege, die gute Infrastruktur und das reichhaltige kulturelle Angebot. Jessika Lüning von G Data CyberDefense beschreibt Bochum als eine lebenswerte Stadt, die familiär und gleichzeitig weltoffen ist. „Studierende aus aller Welt verleihen der City internationales Flair, während pfiffige Start-ups, Kulturschaffende, Gastronomen und sonstige Communities sich neue spannende Kieze erschaffen“, sagt sie. Besonders die Nähe zur Natur, wie dem Kemnader See, sowie ein breites Kultur- und Freizeitangebot würden zur Attraktivität beitragen.
Eine der größten Herausforderungen Bochums ist seine Außenwahrnehmung. So verbinden viele Bochum noch immer mit seiner industriellen Vergangenheit. „Bochum hat lange Zeit kaum oder nur unzureichend in ein starkes Standortmarketing investiert“, führt Prof. Dr. Christian Zenger von Physec als einen der Gründe hierfür an. „Die Wahrnehmung als bedeutender IT-Standort blieb so oft aus, weil schlichtweg die finanziellen Mittel und Maßnahmen für überregionale Sichtbarkeit gefehlt haben.“ Dr. Willems von VMRay sieht zudem ein Problem in der „Kirchturmmentalität“ der Region, die eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Städten des Ruhrgebiets behindert. Eine stärkere Vermarktung als Tech-Hub könnte helfen, dieses Image zu ändern. Und eine forciertere Vernetzung zwischen verschiedenen Branchen, wie etwa Healthcare und Informatik, könnte dazu beitragen, den Standort für die Zukunft stärker aufzustellen.
Obwohl die grundlegende Infrastruktur gut ist, gibt es auch hier Verbesserungspotenziale: insbesondere im öffentlichen Nahverkehr und der Verkehrsplanung. Pendlerdramen und Großbaustellen seien Herausforderungen, die laut Lüning von G Data angegangen werden müssten. Ein weiterer kritischer Punkt ist der Fachkräftemangel, der nicht nur Bochum, sondern die gesamte IT-Branche betrifft. Christian Zenger fordert dringend zusätzliche Investitionen und Strategien zur langfristigen Bindung von Talenten: „Besonders wichtig ist es, hochqualifizierte Fachkräfte vor Ort zu halten. Wenn exzellente Köpfe wie Prof. Dr. Thorsten Holz Bochum verlassen, zeigt das den Handlungsbedarf auf, Fachkräfte stärker an die Stadt zu binden“, gibt der Physec-Gründer zu bedenken.
Bochum hat sich als führendes Zentrum für IT-Sicherheit etabliert. Die Gesprächspartner sind sich allerdings auch einig, dass die Stadt ihre Rolle als führendes Zentrum für IT-Sicherheit ausbauen sollte. Künstliche Intelligenz, Blockchain-Technologie und Quantentechnologien sind nur einige der Trends, die in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen werden. Bochum hat hier das Potenzial, in diesen Bereichen führend zu sein. Die Bündelung von Kompetenzen am Innovationsquartier Mark 51°7 ist dabei ein wichtiger Schritt. Ein vielversprechender Ansatz ist die stärkere Integration von IT-Sicherheit in andere Branchen, etwa das Gesundheitswesen und die Automobilindustrie. Tobias Nadjib von Cariad sieht zudem großes Potenzial in der Anwendung von KI-Technologien in Autos oder Robotern in Dienstleistungsbereichen.
Auch Start-ups spielen eine entscheidende Rolle für Innovationen. Programme wie Cube 5 oder die Start-up-Garage G’85 von G Data unterstützen junge Unternehmen bei ihrer Entwicklung. Friederike Schneider schlägt vor, diese Programme jedoch langfristig zu entfristen, um nachhaltige Erfolge zu erzielen. „Ebenso sollten wir Start-ups noch stärker mit der nationalen Wirtschaft matchen, um nicht nur Know-how, sondern auch potenzielle Kundschaft zu vermitteln“, sagt sie.
Bochum hat sich in den letzten Jahrzehnten bemerkenswert entwickelt. Mit seiner starken akademischen Basis, einer lebendigen Start-up-Szene und einer günstigen Lage hat die Stadt alle Voraussetzungen, um ein führender IT-Standort zu werden. Doch es gibt noch Arbeit: Die internationale Wahrnehmung muss gestärkt, die Zusammenarbeit innerhalb des Ruhrgebiets gefördert und infrastrukturelle Herausforderungen angegangen werden. Die Gesprächspartner sind sich einig: Die Grundlagen sind da – jetzt gilt es sie konsequent weiterzuentwickeln und die Sichtbarkeit Bochums zu erhöhen.