Thomas Haydn, Teles: „Die Umstellungsstrategien der Netzbetreiber sind sehr unterschiedlich: Kleine Netzbetreiber zum Beispiel setzen auf IP-basierte NGN-Backbones. Die letzte Meile überbrücken sie mit DSL-Anschlüssen auf gemieteten Leitungen. Über diese DSL-Anschlüsse stellen sie den Kunden klassische ISDN-Anschlüsse zur Verfügung. Die Umsetzung von IP auf ISDN erfolgt erst durch ein beim Kunden installiertes VoIP-ISDN-Gateway.
Große, etablierte Netzbetreiber werden ihren Kunden dagegen ISDN- und Analog-Anschlüsse – in der Regel mit Hilfe von MSANs (Multi-Service-Access-Nodes) – zur Verfügung stellen. Der MSAN steht normalerweise im Hauptverteiler und setzt den IP-basierten NGN-Backbone entsprechend der Anforderungen des Kunden auf ISDN-, Analog- oder VoIP-Anschlüsse um.
Die Umstellung auf NGN schreitet voran – jedoch längst nicht so schnell wie gedacht. Sowohl Treiber als auch Bremser sind Kostenargumente: Die viel gepriesenen Einsparungseffekte durch NGN sind oft weit geringer, als man aufgrund der Marketingbotschaften mancher Hersteller vermuten könnte. Dennoch: NGN gilt als grüne Technologie, die Stromverbrauch und damit laufende Kosten senkt.
Die Umstellungskosten selbst sind dagegen hoch. Dabei geht es nicht nur um neue Softswitches und Mediagateways, sondern vor allem um das Service-Personal. Seit den 90er-Jahren haben die Netzbetreiber ein Heer hoch qualifizierter Service-Mitarbeiter mit exzellentem TDM-Know-how aufgebaut. Jetzt muss unter hohen Kosten neues NGN-Know-how aufgebaut werden. Für die hybriden Netze und die Netzübergänge gilt es, TDM-Know-how parallel vorzuhalten. Dämpfend auf die Service-Kosten wirkt ein NGN-Equipment, das intelligente Rollouts und Provisionierung ermöglicht. Automatisches Device-Management bedeutet drastisch reduzierte Einsätze von Service-Technikern. Dabei erfolgt die komplette Provisionierung aus der Ferne, ohne Kosten für Vor-Ort-Einsätze.
Die Netzbetreiber sind gezwungen, auf All-IP umzustellen, um die bereits heute geforderten Datenraten zu liefern. Während sich die Core-Netze noch relativ einfach umstellen lassen und dies zu einem guten Teil bereits geschehen ist, bilden die Zugangsnetze den Flaschenhals. Hier fallen enorme Investitionen an. Langfristig geht der Trend in den Zugangsnetzen zur Glasfaser bis zum Endkunden (FTTX). Ein Allheilmittel – insbesondere für die aktuellen Engpässe – ist FTTX jedoch nicht. Dies liegt vor allem an den hohen Kosten neuer Glasfaserleitungen.
Um die bestmögliche Balance zwischen Bedarf und Wirtschaftlichkeit herzustellen, wird daher auf absehbare Zeit hinaus im Zugangsnetz ein Technologie-Mix zum Einsatz kommen. Ein Puzzlestück ist das in großen Städten ausgebaute VDSL, bei dem die Glasfaser bis an den Kabelverzweiger rückt und lediglich für wenige hundert Meter Kupferleitungen zum Einsatz kommen. In vielen kleinen Städten und ländlichen Regionen bleibt auf absehbare Zeit ADSL das Mittel der Wahl. ADSL stößt jedoch an die harten physikalischen Grenzen der Dämpfung der Kupferleitungen. Ab zwei bis drei Kilometer Entfernung vom DSLAM (DSL-Access-Multiplexer) nehmen die Datenraten drastisch ab. Innovative Technologien, zum Beispiel die aktive Nebensprechkompensation (Interference-Cancellation, IFC), können die Situation verbessern, aber keine prinzipielle Abhilfe schaffen. Vor allem sind von ADSL keine Datenraten über 16 MBit/s zu erwarten, in der Regel deutlich weniger.
Zunehmend an Bedeutung gewinnen werden mobile Breitband-Technologien. Diese Zugangstechnologien leisten bereits heute einen wichtigen Beitrag zur Breitbandversorgung. Allerdings stoßen UMTS und LTE ebenfalls an physikalische Grenzen. Bei geringer Zellenauslastung mögen Datenraten von 20 MBit/s und mehr möglich sein. Bei den zu erwartenden Zahlen an Anwendern sowie maximal möglichen Stationen und Frequenzen werden sich solche Werte als kaum realisierbar erweisen. In naher Zukunft wird zudem mit keiner flächendeckenden LTE-Versorgung zu rechnen sein. Bereits die UMTS-Einführung hat Jahre gedauert.
Die Grenzen von Physik und Wirtschaftlichkeit lassen sich nicht aufheben – nur verschieben. Angesichts der enormen Investitionsanforderungen sowie der erzielbaren Amortisationszeiten sind die Netzbetreiber alleine nicht in der Lage, den Netzumbau in der wünschenswerten Zeit und Flächenabdeckung zu leisten. Der aktuelle Stand der NGN-Umstellung und des Breitbandausbaus wurde durch die Unterstützung von Bund, Ländern, Kommunen und EU möglich. Der Staat muss ein starkes Interesse am NGN-Ausbau haben. Schließlich sind Breitbandanschlüsse die Basis für eine wirtschaftliche Tätigkeit. In modernen Wohngebieten verfügen 50 bis 60 Prozent der Wohnungen über Home-Offices. Und in den kommenden Jahren wird sich dieser Trend weiter verstärken.
Neben staatlicher Unterstützung werden für die Refinanzierung der Investitionen der Netzbetreiber neue Dienste aus der Cloud an Bedeutung gewinnen – darunter Centrex und Unified-Communications. Notdürftig mit Mandantenfähigkeit versehene Standard-TK-Anlagen taugen aufgrund von Stabilitätsdefiziten wenig für professionelle Centrex-Angebote. Mit dediziert für Netzbetreiber entwickelten Centrex-Plattformen können diese zusätzlichen Umsatz generieren. Bisher sind Carrier-grade-Centrex-Infrastrukturen in Deutschland noch ein Nischenmarkt. Der Centrex-Anteil an den geschäftlich genutzten TK-Systemen liegt im niedrigen einstelligen Bereich. Mit der NGN-Umstellung wird der Anteil in den nächsten Jahren deutlich steigen. Die Vorteile von Centrex bei Investitionsausgaben, Betriebskosten und Flexibilität sind nicht von der Hand zu weisen.“