Gastkommentar

KI: Inflationärer Gebrauch eines Begriffs

10. Januar 2019, 14:40 Uhr | Autor: Carsten Rust / Redaktion: Sabine Narloch
© Fotolia / Konstantin Hermann

Künstliche Intelligenz ist eins der Megathemen in digitalen Zeiten. Doch wo ist nun KI wirklich am Werk – und wo nicht? Diese Frage sowie den inflationären Gebrauch des Etiketts KI kommentiert Carsten Rust von Pegasystems.

Eines Tages machte Monsieur Jourdain eine grandiose Entdeckung: "Ich spreche Prosa! Meine Güte, so habe ich 40 Jahre lang Prosa gesprochen, ohne es zu wissen." Auf diese Weise machte sich Molière 1671 über den Helden seines Theaterstücks "Der Bürger als Edelmann" (Le Bourgeois gentilhomme) lustig. Heutzutage, knapp 350 Jahre später, verkünden mehr und mehr Unternehmen in vollem Ernst: "Wir verwenden Künstliche Intelligenz!" Und man möchte in vielen Fällen ergänzen: "Seit 40 Jahren schon, ohne es zu wissen."

Tatsächlich erleben wir derzeit eine Inflation von Künstlicher Intelligenz (KI): Überall wo Software drin ist, soll nun auch KI am Werk sein. Eigentlich läuft nichts mehr, das nicht zumindest "KI gestützt" ist, von der Rechtschreibprüfung über das Navi bis zum Chatbot: alles KI. Damit ist KI zu einer Art Qualitätssiegel für anspruchsvolle Software geworden – KI ist keine Auskunft mehr über die Art und Weise, wie Software im jeweiligen Fall funktioniert, wie sie also ihre Lösungen findet, sondern nur dass. Und dass die Sache vielleicht ein wenig schwieriger ist als normal, insofern ist KI mittlerweile zu einem Synonym für Komplexität abgewertet worden. Man kann es auch so auszudrücken: Wenn die Programmierer den Überblick verloren haben, nennen sie es KI.

Zwischen Algorithmen und KI wird kaum mehr unterschieden, und regelbasierte Systeme laufen heute ebenfalls unter dem Ehrentitel KI – als wäre nicht jede Software immer auch regelbasiert: wenn, dann – wenn Mausklick, dann "hello world". Ja klar, auch das ist auf eine rudimentäre Weise "intelligent", aber doch nicht das, was mit KI suggeriert wird.

Was in diesem Zusammenhang besonders auffällig ist: Neuerdings wird KI in Applikationen entdeckt, die schon seit Jahr und Tag kaum verändert auf dem Markt sind. Also alter Wein in neuen KI-Schläuchen, und diese Marketing-getriebene Begrifflichkeit erinnert dann doch sehr an Monsieur Jourdains famose Entdeckung.

Dabei ist es ja nicht so, dass KI nicht auch wirklich, also jenseits vom Marketing, existieren würde. Sie ist immer da im Einsatz, wo man mit Algorithmen eben nicht mehr weiterkommt und vor allem auf die Erkennung von Mustern, selbstlernende Systeme und auf statistische Prognosemodelle zurückgreifen muss. Klassisches Beispiel sind Verfahren der Sprach- und Bilderkennung, oder auch im CRM-Decisioning, wenn etwa ein System in der Lage ist, eigene Fehler zu ernennen und künftig zu vermeiden.

Der Unterschied ist im Grund einfach zu beschreiben: Basierend auf Algorithmen führt das Navi von A über B nach C; selbstlernend würde es erkennen, dass der Fahrer freitags B auslässt und über D fährt, und es wüsste vielleicht aus Kontext-Informationen, dass das nur bei Regen der Fall ist – und schließlich: Dafür muss kein Programmierer zuvor eine Schleife für "wenn Freitag und Regen dann …" in der Software hinterlegt haben. Ein wahrhaft intelligentes Navi muss da selber draufkommen können. Ungefähr so, gern noch komplexer, könnte KI funktionieren. In der Praxis sind solche Anwendungen jedoch noch selten. Deutlich seltener jedenfalls als die vollmundigen Versprechungen von "KI inside". Das Problem: Es bringt die "echte" KI nicht voran, wenn Hinz-und-Kunz-Software unter falscher KI-Flagge segelt. Vielleicht bringt es ja was, wenn Nutzer und Kunden der Inflation des KI-Begriffs ein wenig kritischer begegnen.

Carsten Rust ist Senior Director Client Innovation EMEA bei Pegasystems

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