Wie können wir genügend Strom erzeugen, um den stetig wachsenden Bedarf zu decken? Neben Microgrids spielen erneuerbare Energien hier eine große Rolle. Eric Van Riet von Fluke stellt dabei eine ungewöhnliche Hypothese auf: Ist die Umstellung auf Gleichstrom die Lösung?
Der Artikel beantwortet unter anderem folgende Fragen:
Das Thema Elektrifizierung ist so umfassend, dass man lange Aufsätze darüber schreiben könnte, ohne auch nur an der Oberfläche zu kratzen. Die wichtigste Frage, die weltweit diskutiert wird, lautet jedoch: Wie können wir genügend Strom erzeugen, um den stetig wachsenden Bedarf zu decken? Natürlich spielen Microgrids (Mikronetze) und erneuerbare Energien in diesen Diskussionen eine große Rolle, aber in Wirklichkeit gibt es nur zwei Möglichkeiten, die wir in Betracht ziehen können, und jede von ihnen stellt eine Herausforderung von erschreckendem Ausmaß dar.
Unsere bestehende, auf Wechselstrom/AC basierende Infrastruktur zur Elektrifizierung ist eine Technik, die im Wesentlichen vor weit über 50 Jahren entwickelt wurde. Selbst im schnelllebigen 21. Jahrhundert arbeiten wir immer noch mit mechanischen Schaltern, die durch Elektronik ergänzt werden. Es gibt Transformatoren, Stromleitungen und Sicherheitsschaltungen, aber unter dem Strich hat sich an der Infrastruktur seit geraumer Zeit kaum etwas geändert. Das ist für die Zukunft einfach nicht tragbar.
Eine Möglichkeit, mehr Strom zu erzeugen und zu verteilen, bestünde darin, mehr und dickere Kabel in der Erde zu verlegen und mehr Transformatoren in der Landschaft aufzustellen, wenn wir bei der heutigen Technik bleiben. Aber das ist mit unserem heutigen System eine große Herausforderung, denn die Welt hat einfach nicht genug Kabel, Arbeitskräfte und Platz.
Außerdem wäre die Effizienz nicht besonders hoch. Man braucht sich nur die Probleme beim Aufbau einer zuverlässigen Infrastruktur für Ladestationen für Elektrofahrzeuge (EV) ansehen, um zu verstehen, dass es nahezu unmöglich wäre, die Verkabelung weltweit so weit auszubauen, dass sie den Bedarf decken könnte. Schätzungen gehen davon aus, dass allein in den Niederlanden 60.000 bis 80.000 Kilometer zusätzliche Hochspannungskabel und 8000 bis 13.000 neue Transformatoren erforderlich wären, um bis 2050 eine nachhaltige Energieversorgungsinfrastruktur zu schaffen.
Im heutigen Modell ist es üblich, einen zentralen Standort für die Stromerzeugung zu haben, von dem aus jeder Verbraucher seinen Strom bezieht. So kann ein Kernkraftwerk im Süden Englands Strom erzeugen, der beispielsweise in Schottland benötigt wird. Langsam setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass dieses Szenario nicht praktikabel ist und die Welt Strom ganz anders erzeugen und verteilen muss.
Die Schwierigkeit besteht darin, dass die zweite Option ebenso ungewöhnlich ist – die Abkehr vom Wechselstrom/AC und die direkte Nutzung von Gleichstrom/DC in Industrie und Haushalten. Mit anderen Worten: Gleichstromnetze – vor allem im kleinen Maßstab oder in der Unterverteilung – werden in Zukunft immer häufiger anzutreffen sein. Wechselstrom wird nie ganz verschwinden, weil es immer Szenarien geben wird, in denen er benötigt wird. Allerdings treffen sich Experten bereits in Ausschüssen, um das zu diskutieren, was früher vielleicht als undenkbar galt. So arbeitet beispielsweise die Current/OS Foundation an der Entwicklung eines offenen Standards für die Gleichstromverteilung1, der die Widerstandsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Sicherheit verbessern soll.
Es ist also eine Tatsache, dass das Konzept, den Großteil der weltweit verbrauchten Elektrizität auf Gleichstrom umzustellen, rasch an Fahrt gewinnt – auch wenn die damit verbundenen Kosten und die Logistik an sich vollkommen unklar sind. Positiv ist, dass die Umwandlung von Gleichstrom in Wechselstrom und umgekehrt entfällt, ein Prozess, der immer mit einem erheblichen Energieverlust einher geht und bei weitem nicht den optimalen Wirkungsgrad liefert.
Eines der größten Probleme, mit denen sich die Elektrizitätswirtschaft bei der Umstellung auf Gleichstrom auseinandersetzen muss, ist die Sicherheit. Welche Sicherheitsmaßnahmen müssen getroffen werden und welche Art von Schaltanlagen und Leistungselektronik ist dafür erforderlich? Tritt beispielsweise ein Kurzschluss in einem Wechselstromnetz auf, löst ein Leistungsschalter aus, und es ist unwahrscheinlich, dass es zu größeren Sicherheitsproblemen kommt. Während jedoch Wechselstrom durch den mechanischen Schutzschalter abgeschaltet wird, bleibt Gleichstrom bestehen, und ein Gleichstromkurzschluss könnte eine ernsthafte Gefahr darstellen. Dementsprechend müssten alle Schaltanlagen umgestellt werden, um eine hauptsächlich mit Gleichstrom betriebene Welt zu realisieren. In der Tat müsste man praktisch alles in der bestehenden installierten Basis ändern – mit Ausnahme der Kabel, die bestehen bleiben, solange die richtige Wahl der Gleichspannungspegel getroffen wird. Dies wird derzeit in verschiedenen IEC-Gremien aktiv diskutiert.
Positiv ist zu vermerken, dass die meisten elektrischen Haushaltsgeräte über eingebaute Netzteile verfügen, die den Wechselstrom gleichrichten und Gleichstrom erzeugen. Das heißt, wenn der eingehende Strom bereits Gleichstrom ist, wird der vorgeschaltete AC-Teil nicht mehr benötigt. Dies führt zu einer effizienteren Stromversorgung mit weniger Störungen.
Aus technischer Sicht ist Gleichstrom sicherlich eine vernünftige Idee, auch wenn die Auswirkungen der Umstellung enorm wären. Die Infrastruktur ist derzeit einfach nicht vorhanden, und die Installateure haben nicht das nötige Wissen und die Erfahrung, um einen Gleichstromkreis zu installieren. Die Menschen, die wir bräuchten, um diese Umstellung zu bewerkstelligen, gibt es noch nicht. Aus diesem Grund könnte die Umstellung bis zu 20 Jahre dauern, was Schulen, Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen dazu veranlasst, sich jetzt Gedanken darüber zu machen, wie sie das Know-how vermitteln können, das in einer von Gleichstrom dominierten Welt benötigt wird.
Aus Sicht der Elektrifizierung wird die Umstellung erfolgen, weil die Vorteile unbestreitbar sind – die Gleichstrominfrastruktur wird weniger Störungen, geringere Verluste und eine höhere Effizienz bei der Verteilung elektrischer Energie mit sich bringen. Die Umstellung ist unvermeidlich, aber die beiden Systeme AC/DC werden bis weit über die Lebenszeit unserer Kinder hinaus nebeneinander existieren, weil beide ihre Daseinsberechtigung haben. In den ersten fünf bis zehn Jahren werden die meisten Veränderungen in kleinem Maßstab stattfinden, zum Beispiel auf einem Industriegelände oder sogar in kleinen Hausgemeinschaften, die gemeinsam erneuerbare Energie (PV) nutzen. Die Abkehr vom Wechselstrom wird wahrscheinlich erst in 20 bis 30 Jahren in großem Maßstab erfolgen, wenn der Markt voll ausgereift und rentabel geworden ist. Wenn dann die traditionell mechanischen Schutzschalter vollständig auf Halbleitertechnologie umgestellt sind, werden sich auch die Prüf- und Messgeräte von Unternehmen wie Fluke drastisch verändern. Die elektrifizierte Zukunft erfordert von allen Beteiligten der Versorgungskette eine proaktive und dynamische Reaktion.
Die Zukunft der Energieerzeugung und -verteilung wird mit Sicherheit Gleichstrom sein, und wir müssen uns darauf vorbereiten. Es gibt keine Alternative.
Eric Van Riet, Strategic Support & Training Manager – Managing Application & Technology Team, LMS Admin and Support Platforms, Fluke Europe BV
1 https://currentos.foundation/protocol