Auf dieser Grundlage lassen sich Geschäftsmodelle (weiter-)entwickeln, die heute zumindest in Ansätzen schon Realität sind: Unternehmen bieten beispielsweise in Zusammenarbeit mit anderen Firmen Plattformkooperationen, um über Ökosysteme Kunden einen bedarfsorientierten Service-Mix zu bieten. Ein Beispiel: Ein Umzug steht an – und dieses Ereignis wird verschiedenen Unternehmen über eine (gemeinsam genutzte) KI-gestützte Software automatisch angezeigt. Im Ergebnis erhält die betreffende Person ein spezielles Angebot einer Umzugsfirma, einer Versicherung (für die Möbel) und für eine Hotelübernachtung – falls der Umzug doch nicht so reibungslos klappt wie geplant. Eine Angebots-Kombi, die dem aktuellen Bedarf entspricht und als Unterstützung wahrgenommen wird.
Vor dem Hintergrund solcher Möglichkeiten wird zukünftig die Toleranzschwelle der Verbraucher für nicht personalisierte und somit irrelevante Angebote und Content weiter sinken. Darüber hinaus wollen zunehmend mehr Kunden in eigener Verantwortung darüber entscheiden, welchen Mix aus Produkten und Services sie nutzen. Vorstellbar ist, dass Kunden zukünftig exklusive Plattformen hosten, zu denen sie Anbietern ihres Vertrauens Zugang einräumen. Darüber erhalten sie dann kombinierte Angebote verschiedener Firmen und Dienstleister. So werden Kunden zu Prosumenten und erstellen sich ihr eigenes Portfolio – aus den Angeboten der Brands ihres Vertrauens.
Dazu passt das Szenario „Bot against Bot“ aus der Studie „Decoding Digital Marketing“ von W.I.R.E. und BSI zur Zukunft des Marketings: Jeder Kunde bekommt demnach einen persönlichen Bot als Assistenten zur Seite gestellt, der mit den Bots der Unternehmen kommuniziert, um Reizüberflutung beim Kunden vorzubeugen. Und ein Blick nach China zeigt, wie tiefgreifend digitale Servicemodelle gedacht und von Super-Konzernen wie Alibaba oder Tencent bereits umgesetzt werden. Der Spielraum für Marketing und Kundenbeziehungsmanagement ist eben auch eine kulturelle und/oder politische Frage. Die skizzierten Trends haben das Potenzial, zukünftig ein ganz neues Miteinander von Anbietern und Kunden zu etablieren – und auch neue Machtverhältnisse im Markt zu schaffen, denen Unternehmen Rechnung tragen müssen. Damit einhergeht zwingend aber auch eine Bereitschaft zu teilen: Verschiedene Anbieter teilen den Zugang zu gemeinsamen Kunden, um diesem einen optimalen Angebots-Mix bieten zu können, und der Kunde teilt im Gegenzug seine Daten. Die Bereitschaft dazu besteht grundsätzlich: Wenn Kunden einen echten Mehrwert darin erkennen, fällt ihre Datenteilbereitschaft entsprechend höher aus, wie die aktuelle Studie „Willingness to share: vom Geben und Nehmen“ der Zürcher Fachhochschule bestätigt. Ein korrekter Umgang mit Daten ist damit zukünftig nicht nur aus rechtlichen Gründen zwingend, sondern auch, um sich das Vertrauen der Kunden zu erhalten.
Fallstricke der Kundenorientierung heute
Die unternehmerische Realität legt das Spannungsfeld offen, in dem sich Unternehmen heute vielfach befinden: Historisch gewachsene Silo-Strukturen verhindern die Umsetzung gelebter „Customer Centricity“; technologisch zum Teil überholte Lösungen für das Datenmanagement treffen auf nicht zu Ende gedachte Strategien zur Kundenansprache. Im Ergebnis können sich Unternehmen zwischen Multichannel und (Hyper-)Personalisierung nicht entscheiden – und wählen dann doch den Weg der Marketing-Kakofonie, um sich keinem Unterlassungs-Vorwurf auszusetzen. Mäßig gepflegte Datenstämme tragen zu Inkonsistenzen bei Angeboten und Preisen auf verschiedenen Kanälen bei. Manuelle Bearbeitung von Anfragen passen nicht zur digitalen Dynamik in der Kundenkommunikation; Evaluierungen des Kundenbeziehungsmanagements, zum Beispiel per Net-Promotor Score (NPS) und Customer Effort Score, finden laut der erwähnten ZHAW-Studie gar nicht oder zu selten statt.
Wenn sich das ändern soll, sind Kunden und Unternehmen gemeinsam gefragt: Die digitalen Voraussetzungen für ein zukunftsfähiges Kundenbeziehungsmanagement sind vorhanden – die Verantwortung zur strategischen Kompetenz und kommunizierten Klarheit liegt aber weiterhin beim Unternehmen: „Wer sind wir – an wen richtet sich unser Angebot, und wofür steht unsere Marke?“. Entsprechend der Antworten auf diese Frage wird sich der Markt differenzieren – und damit einhergehend auch die Marketing- und Kommunikationsstrategien von Organisationen. Unternehmen mit einem Angebot für breite Zielgruppen werden voraussichtlich auch künftig weiter auf die Bespielung möglichst vieler Kanäle setzen, Anbieter für spezialisierte Services und Produkte selektiver vorgehen und die Möglichkeiten der Hyperpersonalisierung ausreizen.
Gleichzeitig müssen sich Verbraucher die Frage stellen: „Wie wichtig ist mir Datenschutz, inwieweit bin ich bereit, bewusst (!) meine Daten zu teilen, um eigenverantwortlich Services und Angebote wahrzunehmen?“. Nur, wenn sich beide Parteien selbst und wechselseitig miteinander verständigen, kann sich der Markt weiterentwickeln – und Unternehmen mit spezialisierten Services und Produkten im Sinne der Kunden gebührend honorieren.
Zeno Hug ist CRM Community Manager bei BSI