16. Dezember 2020, 13:00 Uhr |
Autor: Boris Jitsukata / Redaktion: Sabine Narloch
"Gutes Design bewältigt Komplexität und stiftet Sinn", sagt Boris Jitsukata vom Design-Unternehmen Goodpatch. Doch woran erkennt man gutes Design? Jitsukata gibt zehn Tipps.
Home-Office, Videokonferenzen, weniger Geschäftsreisen: Viele Dinge werden nach der Corona-Krise zum „New Normal“. Und damit zur Herausforderung für Designer. Der Digitalisierungsschub der letzten Monate war sehr technologiegetrieben, jetzt sollte der Mensch wieder mehr im Mittelpunkt stehen und das geht auch über gutes Design. Damit ist nicht nur gemeint, wie etwas aussieht. Design ist, wie etwas funktioniert, mehr noch: Design ist, wie sich etwas für uns anfühlt, nicht haptisch, sondern emotional. Gutes Design bewältigt Komplexität und stiftet Sinn.
Aber was ist gutes Design? Wer danach googelt, findet schnell die zehn Thesen zu gutem Design von Dieter Rams. Der Design-Papst ist bekannt für seine Entwürfe für Hifi-Geräte von Braun in den 1960er Jahren. Seine Thesen sind nach wie vor richtig, man merkt ihnen allerdings an, dass sie aus der Vor-Digital-Ära stammen. Angesichts der rasanten Digitalisierung der letzten Jahre und vor allem Monate sollten wir uns fragen, ob die Prinzipien, wie wir Produkte und Prozesse designen, den Erwartungen der Nutzer noch gerecht werden. Im Folgenden zehn neue Thesen, die auf den Empfehlungen von Dieter Rams basieren, aber an einigen Stellen die neuen Herausforderungen aufgreifen, vor allem bezüglich der Nutzerschnittstelle von Apps.
Gutes digitales Design fühlt sich gut an Genauer gesagt geht es darum, wie man sich fühlt, wenn man das Produkt nutzt – und dass man überhaupt etwas fühlt. Das kann ambivalent sein. Wir fühlen uns zum Beispiel gut, wenn das Häkchen hinter der Whatsapp-Nachricht blau ist, weil man dann weiß, dass der Empfänger die Nachricht gelesen hat. Aber was fühlen wir, wenn das Häkchen stundenlang grau bleibt? Unsicherheit, Ungeduld, irgendwann vielleicht sogar Wut? Positive Gefühle sind erwünscht, aber ein Designer sollte sich bewusst sein, dass er auch negative Gefühle auslösen kann.
Gutes digitales Design macht unser Leben einfacher Dieter Rams forderte, dass Design brauchbar sein müsse, wobei man das unterschiedlich verstehen kann, als „nützlich“ oder als „bedienbar“. Heute müssen wir einen Schritt weiter gehen. Digitale Produkte sollen unsere Produktivität im Alltag steigern, ein schönes Radio von Braun musste das nicht. Ein gutes Beispiel ist Google Maps. Als es erschien, konnte es nichts außer navigieren – aber so gut und intuitiv, dass es sich schnell durchsetzte. Besonders hervorheben kann man hier Apple. Steve Jobs war ein großer Bewunderer von Dieter Rams, was man am Design der Mac-Computer sehen kann.
Gutes digitales Design denkt mit Dazu hat sich der Fachbegriff agentives Design etabliert. Dafür gibt es keine sinnvolle deutsche Übersetzung. Gemeint ist, dass die Software vorausschauend Aufgaben erledigt, ohne jedes Mal um Erlaubnis zu fragen. Ein einfaches Beispiel ist die Autokorrektur in Word. Oder der Google-Kalender, der automatisch Termine einträgt. Oder die Meeting-Software, die aus dem Mailverlauf die relevanten Teilnehmer zu einem Projekt vorschlägt. Die Software macht es einfach, sie teilt es nur mit, höchstens muss man noch O.K. klicken. Bei den rasanten Fortschritten der Künstlichen Intelligenz erhalten Designer hier viele spannende Möglichkeiten.
Gutes digitales Design folgt gelernten Mustern Zwei Finger spreizen und das Foto vergrößert sich: Das Zoomen auf einem Touch-Bildschirm beherrschen heute schon Kleinkinder. Viele solche Muster haben wir intuitiv gelernt und Designer tun gut daran, darauf aufzubauen. Apple und Google haben dazu Design-Guidelines veröffentlicht, die genau vorgeben, wie man scrollen oder swipen soll. Am Ende geht es darum, Komplexität in der Bedienung zu reduzieren.
Gutes digitales Design passt sich dem Nutzer an Das ist sicher jedem schon aufgefallen: Der eigene Facebook-Feed sieht ziemlich anders aus als der von Bekannten, weil Facebook sich an jeden Nutzer anpasst. Das hat nicht nur Vorteile. Instagram passt sich ebenfalls an und macht gerade dadurch süchtig, weil es unter Druck setzt, noch mehr Likes zu sammeln. Aus Sicht des Unternehmens ist das clever, aber nicht unbedingt für die Nutzer. Die Verantwortung des Designers ist es, hier Balance herzustellen.
Gutes digitales Design ist inklusiv Eine inklusive App lässt sich auch von Menschen mit körperlichen Einschränkungen gut bedienen. Inklusion beginnt aber schon früher. Nicht inklusiv ist eine App, die gleich bei der ersten Nutzung fragt, ob man männlich oder weiblich ist. Wenn das Unternehmen besonders inklusiv sein will, gibt es noch eine Checkbox für divers. Aber warum muss man das überhaupt fragen? Nicht ideal ist hier Tinder, das offenbar von Männern entwickelt wurde. Männer swipen die Bilder von fast allen Frauen nach rechts, um die Auswahl zu erhöhen. Frauen gehen selektiver vor. Deshalb hat der Tinder-Konkurrent Bumble so großen Erfolg bei Frauen. Die müssen dort erst aktiv werden, erst dann kommt der Mann zum Zug.
Gutes digitales Design entwickelt sich ständig weiter Es gibt den Spruch: Software ist wie eine Banane – sie reift beim Kunden. Das ist nicht nur negativ. Apps führen ein Eigenleben, sind nie wirklich fertig, und zehn Jahre halten müssen sie auch nicht, weil es nach ein paar Jahren schon wieder eine andere, bessere App gibt. Designer müssen sich das zu eigen machen, indem sie eine neue App erstmal nur mit den Grundfunktionen ausstatten. Ich nenne das ein „Minimum Lovable Product“. Das muss erstmal nur so gut sein, dass es eine kleine Community liebt. Wenn die Community wächst, wächst auch der Funktionsumfang.
Gutes digitales Design integriert andere Dienste Die Zeiten von abgeschotteten Software-Welten sind vorbei. Auch ein Apple Homepod muss auf den Google Kalender zugreifen können. Ein anderes Beispiel, für Integration ist IFTTT, das viele Funktionen auf Smartphones, auch unterschiedlicher Anbieter, automatisiert.
Gutes digitales Design ist schnell Apps sollten schnell öffnen, Daten schnell nachladen – so wie bei Facebook. Während man scrollt, sind die nächsten Posts schon im Speicher. Dass eine App schnell ist, merkt man daran, dass man nichts merkt. Umgekehrt: Wenn eine App nervt, ist sie meist nicht schnell genug.
Gutes digitales Design nimmt Angst In Zeiten der Krise soll Design Angst nehmen und nicht schüren. Ein Beispiel: die Corona-Warn-App. Anfangs verunsicherte sie mit Fehlermeldungen. Apps sollten Informationen auch nicht dramatisieren. Ein Beispiel dafür sind Aktien-Apps. Die Aktien-App von Apple schneidet den Kurs unten ab, so sieht jeder kleine Kursrückgang dramatisch aus. In der App von Google ist dagegen der komplette Kurs aufgetragen, da sieht alles viel harmloser aus.
Zu Zeiten von Dieter Rams bei Braun gab es noch kein Internet und keine sozialen Medien, alle Produkte, die er gestaltete, arbeiteten analog und mit mechanischen Tasten und Knöpfen. Interessant ist, dass es dadurch auch zu Widersprüchen kommt. So fordert Rams zum Beispiel, dass gutes Design langlebig sein soll. Das beißt sich mit meiner These, dass gutes Design sich ständig weiterentwickeln und sich dem Nutzer anpassen soll. Der Radioempfänger T1000 von Braun von 1963 war auch zehn Jahre später noch zeitlos „schön“. Wenn man ein altes Smartphone von vor zehn Jahren zur Hand nehmen und sich damit Apps anschauen würde – unvorstellbar, dass wir heute damit zufrieden wären.
Mein letzter Rat lautet: In Sachen Design am Ball bleiben! Denn gutes Design ist kein Nice-to-Have, sondern eine Pflicht und eine nie endende Aufgabe.
Boris Jitsukata ist Geschäftsführer beim Design-Unternehmen Goodpatch