In deutschen Behörden finden Papier, Stempel und Faxgeräte immer noch häufig Anwendung. Im Unterschied dazu werden in Estland Bankgeschäfte, Behördengänge und Kommunikationsprozesse fast vollständig digital abgewickelt. Was sich Deutschland in Sachen E-Government vom estnischen Weg abschauen kann.
Eine IDG-Studie aus dem Jahr 2021 zeigt: Der Digitalisierungsfortschritt in der deutschen Verwaltung schreitet nur langsam voran. Laut dem Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (Onlinezugangsgesetz oder OZG) sollen Bund, Länder und Kommunen bis Ende 2022 rund 600 Dienste – von Ausweis- und Führerscheinausstellung bis hin zum Elterngeld – digital anbieten können. Bislang ist jedoch bloß ein Viertel aller BehördenleiterInnen in Deutschland laut der Umfrage mit einem einzelnen, aktuellen Digitalisierungsprojekt beschäftigt. Um die Zielsetzung zu erfüllen, reicht das nicht aus. Die meisten Beschäftigten in den Behörden sind motiviert, ihre Arbeitsabläufe zu digitalisieren – vom öffentlichen Druck ganz zu schweigen. Doch diese Vorhaben werden, abhängig von der Behörde, durch verschiede Faktoren ausgebremst: unklare Zuständigkeiten im föderalen System, starre Vorschriften, unzureichende IT-Budgets und fehlende Softwarelösungen.
Estland ist ein Paradebeispiel dafür, dass es auch anders geht: So zeigt das Land im Baltikum, dass es möglich ist, fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens zu digitalisieren und die Öffentlichkeit davon zu begeistern. Auch wenn Deutschland und Estland sehr unterschiedliche Voraussetzungen haben, schadet ein Blick auf den estnischen Weg zur digitalen Verwaltung nicht.
Die estnische Premierministerin Kaja Kallas wird häufig von ihren europäischen Amtskollegen angesprochen, um über den estnischen Weg zu diskutieren. Viele betrachten Estland als Versuchslaboratorium für größere Länder, die aus unterschiedlichen Gründen noch mit der Digitalisierung hadern. Doch wie hat es das kleine Land geschafft, innerhalb von wenigen Jahren zu einem der fortschrittlichsten Staaten der Welt zu werden? Bis 1991 war Estland Teil der Sowjetunion. Kurz nachdem das Land seine Unabhängigkeit erlangt hatte, setzte die junge estnische Regierung auf Digitalisierung – ein strategischer Schritt, der das Land gegenüber Riesen wie Russland, Finland, Schweden und Norwegen stark machen sollte. Die Verwaltung des Landes wurde genau zu der Zeit aufgebaut, als digitale Lösungen verfügbar wurden. Der günstige Zeitpunkt und die Voraussicht der Regierung führten zu Innovationen, die erstmal im Finanzwesen stattgefunden haben. Anfang der 90er wurden die Bankdienstleistungen auf der Grundlage der neuesten Technologie entwickelt.
Weitere Schritte folgten: Bereits in den 1990er-Jahren wurden die Schulen digitalisiert und mit einem Internetzugang und Computern versorgt. In den 2000ern erschienen die ersten digitalen öffentlichen Dienstleistungen: Steuererklärungen, Apothekenrezepte und Firmenregister. Es wurde auch die digitale Signatur legalisiert, die den gleichen Stellenwert wie eine handschriftliche hat und sowohl in der Privatwirtschaft als auch in der Verwaltung gültig ist.
Die strategische Entscheidung, in die Digitalisierung des Landes zu investieren, hat sich seitdem ausgezahlt. Heute ist das Land mit 1,3 Millionen Einwohnern ein Vorreiter in Sachen Digitalisierung. Fast alle öffentlichen Angelegenheiten können digital abgewickelt werden, auch bei Parlamentswahlen kann man die Stimme im Internet abgeben. Die einzigen Ausnahmen bilden die Ehe und die Scheidung: Bei beiden Gelegenheiten muss man körperlich anwesend sein.
Als Schlüssel zu den digitalen Möglichkeiten dient die sogenannte „eCard“, der Personalausweis mit persönlicher digitaler Identität, der gleichzeitig als Führerschein und Versichertenkarte fungiert. Die Behörden kommunizieren per E-Mail und schicken rechtzeitig eine Erinnerung, falls der Ausweis bald seine Gültigkeit verlieren sollte. Banken, Versicherungen und weitere Unternehmen nutzen ebenso die eCard und erhalten Zugang zu relevanten Daten. Im Unterschied zum föderalen System in Deutschland gibt es in Estland keine regionale Autonomie. Es gibt 79 selbstverwaltete Gemeinden, davon 64 ländliche Gemeinden und 15 Städte. Die StaatsbeamtInnen kommunizieren über ein eigenes Internetportal. Die Behörden tauschen die Daten aus oder machen sie im gemeinsamen System für Berechtigte verfügbar. Doch es gibt einen weiteren wichtigen Unterschied zu der Lage in Deutschland: Die BürgerInnen Estlands vertrauen den digitalen Lösungen und sind bereit, mit den Behörden online zu kommunizieren. Flächendeckendes Internet, hervorragendes Mobilfunknetz sowie öffentliche Hotspots machen es für fast alle möglich, die Vorteile der digitalisierten Verwaltung zu nutzen.
Die Prinzipien, die in Estland grundlegend sind, lauten: „Digital First“ und „One-Stop-Government“. Jede Person in Estland verfügt über eine offizielle E-Mail, die zur Kommunikation mit den Behörden dient. Die Daten der BürgerInnen werden vor Missbrauch geschützt – dank dem smarten und sicheren System „X-road“, das einen Datenaustausch zwischen den Behörden in Echtzeit erlaubt und durch Dezentralität sehr hohe Sicherheitsstandards bietet. Auch im Gesundheitssektor nutzen die Esten digitale Möglichkeiten. Bereits 2008 wurde die digitale Krankenakte eingeführt. Das medizinische Personal kann auf die Daten der PatientInnen zugreifen und Rezepte digital ausstellen.