Digitales Musterland

Digitalization made in Estonia

3. Mai 2022, 16:30 Uhr | Autorin: Anu Einberg / Redaktion: Diana Künstler

Fortsetzung des Artikels von Teil 1

Das estnische E-Residency-Programm: Eine Tür zur ganzen Welt

Einfache Steuererklärung, zentralisierte Verwaltung, One-Stop-Government: Die einfache Abwicklung offizieller Angelegenheiten ist nicht nur für private BürgerInnen, sondern auch für GründerInnen vorteilhaft. Es lässt sich sagen, dass die Digitalisierung des öffentlichen Sektors den Weg für das Wachstum privater Unternehmen bereitete. Mit 1.126 aktiven Start-ups verzeichnet Estland aktuell die meisten Unicorns per capita in ganz Europa. Skype, Playtech, Wise, Bolt, Pipedrive wurden in Estland gegründet. ID.me und Zego haben ebenfalls Wurzeln in der estnischen Start-up-Community. In Estland dauert eine Start-up-Gründung tatsächlich nur ein paar Stunden. Dies kann von einem beliebigen Ort auf der Welt online erfolgen. Für Unternehmen sind die meisten Prozesse digital, der bürokratische Aufwand ist sehr gering. Jede Person in der Welt hat zudem die Möglichkeit, ein/e virtuelle/r Staatsbürger/in Estlands zu werden. Diese Option ist vor allem für GründerInnen interessant. Im Rahmen der sogenannten „E-Residency“ erhalten ausländische StaatsbürgerInnen eine ID-Karte, mit der sie ihre Identität verifizieren können und so Zugang zu den meisten staatlichen und privaten elektronischen Diensten erhalten. Die E-Residents können ein Bankkonto öffnen, ihre Firmen im Handelsregister online eintragen lassen und darüber hinaus digitale Verträge unterschreiben, die in Estland rechtsverbindlich sind. Sogar Investitionsgeschäfte können online vereinbart und durchgeführt werden.

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Der estnische Weg und die Learnings für Deutschland

Inwiefern lässt sich die estnische Erfolgsgeschichte auf Deutschland übertragen? Eine Sache vorweg: Hierzulande wären manche Lösungen, die in Estland eingeführt wurden, nur schwer umsetzbar. Die föderale Struktur hat ihren Einfluss auf die Prozesse in den Behörden, die sich in manchen Bundesländern stark unterscheiden. Somit wäre eine Skalierung bestimmter Lösungen schwierig. Rechtliche Beschränkungen spielen auch eine Rolle: Aufgrund des „Volkszählungsurteils“ des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung von 1983 gibt es in Deutschland zum Beispiel keine elektronischen IDs. Doch trotzdem gibt es wichtige Learnings, die auch für die Bundesrepublik relevant sein könnten:

  1. Bildung als Grundlage für erfolgreiche Digitalisierung: Egal ob schulische und universitäre Bildung, Umschulungen oder weiterführende Kurse: Es ist notwendig, digitale Kompetenzen in der Bevölkerung zu stärken. So fördert man die Bereitschaft, digitale Leistungen zu nutzen, wirkt gegen die immer noch in Deutschland verbreitete Skepsis gegenüber neuen Technologien und bekämpft den wachsenden Fachkräftemangel im IT-Sektor. In Estland ist Coding-Unterricht in der Schule Teil des Curriculums. Es gibt auch zahlreiche Kurse an Universitäten sowie Sommerkurse und Juniorenprogramme an Unternehmen, die ihre SpezialistInnen selbstständig ausbilden.
  2. Innovation fördern – auch in der Privatwirtschaft: Digitalisierung und Innovation gehören zusammen: In Estland gibt es zahlreiche staatliche Programme, die Innovationen fördern. Doch die wichtigsten Fortschritte werden in der estnischen Start-up-Szene gemacht. Eine aktive Hackathon-Kultur existiert sowohl innerhalb der Start-up-Community als auch in größeren Unternehmen und staatlichen Organisationen. Das digitale, kreative Ökosystem macht es für interdisziplinäre Teams möglich, neue Ideen auszutauschen und so bestmögliche Lösungen zu finden.
  3. Auf Cyber Security setzen: Der technologische Fortschritt macht elektro-nische Behördendienste möglich, doch gleichzeitig bringt die breite Anwendung von E-Diensten auch Gefahren mit sich. Digitale Verwaltung wird zunehmend für bösartige Angriffe anfällig. Auch hier kann Deutschland von Estland lernen: Das Land ist Vorreiter in Sachen Cybersicherheit. 2021 wurde das Land laut dem Global Cybersecurity Index (GCI) auf Platz 3 eingestuft, unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist es sogar auf dem ersten Platz. Estland ist der erste Staat, der eine Blockchain-Lösung im staatlichen Sektor eingeführt hat, um sich gegen Cyberangriffe zu wappnen.
  4. Anreize für BürgerInnen schaffen, digitale Dienste zu nutzen: Aktuell erledigen 95 Prozent der estnischen BürgerInnen ihre Steuererklärung elektronisch. Sie werden mit einer früheren Rückzahlung belohnt, wenn die Erklärung elektronisch erfolgt. Es wäre sinnvoll, ähnliche Anreize auch in Deutschland zu schaffen. So würde die Motivation in der Bevölkerung wachsen, von digitalen Diensten Gebrauch zu machen.
  5. Interoperable Lösungen innerhalb der EU entwickeln: Das europäische Covid-Zertifikat zeigt, wie gut europäische Lösungen funktionieren können, wenn sie interoperabel entwickelt wurden. Unabhängig davon, in welchem Land das Zertifikat ausgestellt wurde, kann es bei einer Reise ins europäische Ausland genutzt werden. Wenn Europa eine globale Führungsrolle übernehmen soll, ist es notwendig, mehr digitale Dienste einzuführen und ihre EU-weite Interoperabilität zu gewährleisten. Hier kann Estland anderen Ländern Unterstützung bieten.

Vorbildhafte Digital-First-Einstellung

Anu Einberg, Mooncascade
Anu Einberg, Geschäftsführerin von Mooncascade
© Mooncascade

In Sachen Digitalisierung hinken Deutschlands Verwaltungen noch hinterher. Obwohl politische Vorgaben und der Wille hin zu elektro-nischen Prozessen vorhanden sind, schaffen es deutsche Behörden bislang nicht, ihr Digitalniveau zu heben. Estland gehört seit den 1990er-Jahren zum Vorreiter in Sachen digitale Modernisierung: Die Balten rüsteten auf und ermöglichen den Menschen im In- und Ausland flächendeckend einfache, digitale Lösungen für ihr tägliches Leben. Die Digital-First-Einstellung spiegelt sich auch in der Gründerkultur des Landes wider. Unter seinen 1.126 aktiven Start-ups verzeichnet Estland aktuell die meisten Unicorns per Capita in ganz     Europa. Für eine erfolgreiche, digitale Umsetzung in allen Lebensbereichen, sollte Deutschland also von Estland lernen und seine eigenen Prozesse nach und nach umrüsten – für eine gemeinsame, digitale Zukunft.


  1. Digitalization made in Estonia
  2. Das estnische E-Residency-Programm: Eine Tür zur ganzen Welt
  3. Status quo E-Germany: Lösungen, die kaum genutzt werden

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