Klinisches Denken schlägt Transkription

Rekursive KI-Systeme stärken Vertrauen in die Patientenversorgung

27. August 2025, 9:51 Uhr | Jörg Schröper
Florian Schwiecker vom europäischen KI-Anbieter Corti, der sich auf KI-Lösungen für das Gesundheitswesen spezialisiert hat, erklärt, woran die meisten aktuellen Lösungen und Ansätze vom Ursprung her kranken.
© Corti

Neue Echtzeit-Technik unterstützt medizinisches Fachpersonal mit nachvollziehbarer Entscheidungslogik und erhöht damit Sicherheit und Effizienz in der klinischen Praxis.

Die Digitalisierung in der Medizin hat mit der Einführung KI-gestützter Systeme große Erwartungen geweckt. Virtuelle Assistenten und sogenannte Ambient Scribes sollten die ärztliche Schreibarbeit verringern und mehr Zeit für Patientengespräche ermöglichen. Doch in der Praxis hat sich dieses Versprechen bisher oft nicht erfüllt, wie Florian Schwiecker, von Corti ai betont. Corti ist ein Forschungs- und Entwicklungsunternehmen für KI-Modelle und Infrastruktur im Gesundheitswesen mit Sitz in Kopenhagen.

Statt einer Entlastung entstand zusätzliche Komplexität. Meist muss medizinisches Fachpersonal fehlerhafte KI-Resultate korrigieren, neue Risiken im Blick behalten und sich gleichzeitig in veränderten Abläufen zurechtfinden. Ihre Verantwortung für die medizinische Dokumentation bleibt dabei unverändert.

Laut Schwiecker kranken die meisten aktuellen Lösungen und Ansätze bereits an der Basis. „Ein zentrales Problem liegt nicht allein in der Technik, sondern in der Denkweise hinter den Systemen. Viele aktuelle Lösungen behandeln ärztliche Gespräche als statische Datenblöcke. Doch die Gesundheitsversorgung ist ein vielschichtiger, dynamischer Prozess. Symptome entwickeln sich, Informationen entstehen in Etappen und Kontexte verändern sich innerhalb von Sekunden“, so Schwiecker.

Künstliche Intelligenz mit klinischem Verstand

Für diese komplexe Realität brauche es Systeme, die nicht nur aufzeichnen, sondern mitdenken. Genau hier setzte der Ansatz des rekursiven Denkens an. Statt eine abgeschlossene Unterhaltung nachträglich zu transkribieren, analysieren rekursive Systeme den Gesprächsverlauf in Echtzeit. Sie erkennen klinische Fakten unmittelbar, gleichen sie mit bereits bekannten Informationen und dem Patientenkontext ab und fügen sie direkt strukturiert in die Dokumentation ein.

„Diese Form der Echtzeitanalyse orientiert sich am Denkprozess erfahrener Kliniker. Sie erkennt Widersprüche, deutet Symptome im Kontext und passt das Verständnis fortlaufend an. Die daraus entstehende klinische Notiz ist keine bloße Abschrift. Sie bildet den Entscheidungsweg ab und schafft damit die Grundlage für transparente klinische Dokumentation“, so der Experte weiter.

Vertrauen entsteht durch Transparenz

Ein entscheidender Vorteil dieser Systeme liege in ihrer Nachvollziehbarkeit. Viele Mediziner stehen KI skeptisch gegenüber – besonders, wenn sie Ergebnisse liefert, ohne ihren Weg dorthin zu zeigen. Rekursive KI-Systeme machen ihre Logik sichtbar und ermöglichen es, während des Gesprächs einzugreifen oder zu korrigieren. So wird die Verantwortung für die Qualität der Dokumentation nicht auf einen einzigen Moment am Ende der Konsultation verlagert, sondern über den gesamten Ablauf hinweg gesichert.

„Wenn mehrere Symptome gleichzeitig auftreten, steigt die Komplexität erheblich. Kommen dann noch widersprüchliche oder unspezifische Befunde hinzu, wird es für jeden Kliniker nahezu unmöglich, alle Informationen strukturiert zu erfassen. Genau hier kann eine intelligente, kontextbezogene Unterstützung einen entscheidenden Unterschied machen“, sagt dazu Dr. Lasse Krogsbøll, ehemals praktizierender Arzt am Bispebjerg-Spital in Kopenhagen.

Diese kontinuierliche Begleitung im Entscheidungsprozess entspricht nicht nur klinischen Anforderungen. Sie erfüllt auch die regulatorischen Forderungen an KI-gestützte Medizinprodukte. Gefragt sind Systeme, die prüfbar, erklärbar und sicher sind.

Mehr als nur Dokumentation

Der Ansatz des rekursiven Denkens reiche über die reine Notizenerstellung hinaus. Die zugrunde liegende Infrastruktur kann auch andere Anwendungen ermöglichen – etwa bei der Differenzialdiagnose oder bei kontextsensitiven Warnhinweisen. Dieser Ansatz verändert die Rolle von KI in der klinischen Umgebung grundlegend.

Ein anschauliches Beispiel macht das Potenzial deutlich: Eine Ärztin spricht mit einem Patienten über Brustschmerzen. Die KI erkennt dabei nicht nur den Begriff. Sie prüft automatisch, ob ein EKG fehlt, ob Wechselwirkungen mit Medikamenten vorliegen und ob frühere Laborwerte auffällig waren. All das geschieht parallel zum Gespräch. Das ist möglich, wenn KI nicht nur aufzeichnet, sondern klinisches Denken in Echtzeit unterstützt.

Wandel mit Augenmaß

„Natürlich bringt dieser technologische Wandel neue Anforderungen mit sich. Echtzeitsysteme benötigen spezielle Infrastruktur, stabile Schnittstellen, geringe Latenz und klare Validierungsprozesse. Doch diese Herausforderungen sind lösbar, vor allem wenn die Technologie gezielt für den Einsatz in der medizinischen Praxis entwickelt wurde“, so Schwiecker weiter.

Entscheidend sei dabei nicht nur die technische Leistungsfähigkeit, sondern die Integration in bestehende Prozesse. Die Lösungen müssen nachvollziehbar, editierbar und objektiv überprüfbar sein. Vor allem aber müssen sie die ärztliche Rolle stärken – nicht ersetzen.

Vertrauen zurückgewinnen

Das Potenzial von KI im Gesundheitswesen liegt nicht in der Automatisierung, sondern in der gezielten Unterstützung ärztlicher Denkleistung. Informationen müssen geordnet, kontextualisiert und verständlich gemacht werden – in dem Moment, in dem sie entstehen.

„Rekursives Denken ist kein Allheilmittel. Aber es kann den Beginn einer neuen Phase markieren: einer Phase, in der Künstliche Intelligenz nicht nacharbeitet, sondern mitarbeitet. Damit rückt in greifbare Nähe, was bislang gefehlt hat: eine KI, die wirklich mitdenkt und die medizinische Versorgung spürbar verbessert“, so Schwiecker.
 

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