Remote Work, KI und die Zukunft der Arbeit

Parallelwelten

2. März 2023, 7:00 Uhr | Dr. Wilhelm Greiner

Fortsetzung des Artikels von Teil 2

Arbeiten und arbeiten lassen

Die Möglichkeiten, Arbeitsabläufe per generativer KI zu beschleunigen, scheinen schier unendlich – kein Wunder, dass die Tech-Influencer aus dem Häuschen sind. Doch wo anfangen? „Die Frage ist: Wo sind unsere Pain Points? Wo wird unnötige Arbeitszeit verschwendet mit Dokumentation? Wo sind wir zu langsam in der Beantwortung der immergleichen Kundenanfragen? Wo können wir wegen Sprachbarrieren bestimmte Märkte nicht bedienen? Von dort aus würde ich die Einsatzgebiete einkreisen“, sagt Aljoscha Burchardt vom DFKI.

Doch auch hier liegen noch Stolpersteine im Weg. Da ist zunächst das erwähnte Problem der Halluzinationen: Krankenhauspersonal muss immer mehr Zeit für Dokumentation aufwenden, das wäre also ein wunderbarer Einsatzfall für generative KI – aber bitte nur, wenn ChatGPT nicht Symptome oder Diagnosen in die Krankenakte hineindichtet.

Ein weiterer Bremsklotz: Bias, also Ergebnisverzerrung durch mangelhafte Datenbasis oder Methodik. Zum Beispiel erstellt ein KI-Service namens Lensa nach Upload eines Selfies automatisch einen bunten Strauß möglicher Profilbilder (Avatare) in diversen Stilen. Doch Frauen – darunter MIT-Technology-Review-Autorin Melissa Heikkilä – berichteten, dass Lensa sie mitunter leicht bekleidet und sogar in anzüglicher Pose abbildet, männliche Kollegen hingegen nicht. Der Hintergrund: Lensa nutzt Stable Diffusion, und diese KI generiert ihre Kreationen auf der Basis unzähliger Bilder aus dem Internet. Und hier findet man – so wurde mir berichtet – zahlreiche sexualisierte Abbildungen von Frauen, viel mehr als von Männern. Die Folge: Generative KI verstärkt, unabhängig vom Thema, den bestehenden Bias, indem sie ihn aggregiert und somit repliziert – und dies in einer KI-gestützten Zukunft in großem Maßstab und immer wieder.

Der Kampf gegen solche Verzerrungen dürfte damit künftig eine der wichtigsten Aufgaben werden, will man beim KI-Einsatz im Arbeitsalltag keine Vorurteile und Benachteiligungen zementieren. Mal sehen, wie stark sich die IT-Entwicklergemeinde – bekanntlich überwiegend ein „Boys’ Club“ – für derlei erwärmen kann.

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Aljoscha Burchardt, Principal Researcher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI)
„Es ist operativ eine gute Idee, zentrale Elemente der Wertschöpfung unter eigener Kontrolle zu haben“, sagt Aljoscha Burchardt, Principal Researcher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), mit Blick auf die digitale Souveränität Europas.
© Helmut Pucher

KI-Souveränität

Ein großer Teil der KI-Angebote kommt heute aus den USA, weitere aus China: So präsentierte der chinesische Suchmaschinenbetreiber Baidu kürzlich eine Chat-GPT-Konkurrenz namens Ernie (von Google stammt das Sprachmodell Bert – Ernie und Bert, ihr versteht). Europa hingegen hinkt hinterher – und wieder einmal droht Abhängigkeit von innovativer Technik aus dem Ausland. „Es ist operativ eine gute Idee, zentrale Elemente der Wertschöpfung unter eigener Kontrolle zu haben, was ja auch unter dem Stichwort ‚Digitale Souveränität‘ für andere Teilbereiche angestrebt wird“, sagt DFKI-Forscher Burchardt. „Als Gesellschaft und Wissenschaft möchten wir bei der Entwicklung beteiligt sein und unsere eigenen Daten, Werte und Vorstellungen einbringen können, anstatt nur passiver Abnehmer und Zuschauer zu sein.“ Schließlich drohen zum Beispiel die bekannten Datenschutzrisiken, wenn Beschäftigte Interna an KI-Tools aus den USA oder China weitergeben, um Arbeitsschritte zu delegieren.

Erschwerend kommt – wie überall – die Klimakrise hinzu: Maschinelles Lernen machte laut einem Forschungspapier von David Patterson et al. in den letzten Jahren 15 Prozent von Googles gesamtem Energieverbrauch aus. Dieser lag gemäß Googles aktuellem Nachhaltigkeitsbericht im Jahr 2020 bei 15,1 TWh und stieg 2021 auf 18,3 TWh. Zum Vergleich: Laut IEA (International Energy Agency) lag der Stromverbrauch Litauens mit seinen 2,8 Millionen Einwohnern im Jahr 2020 bei 12,5 TWh. Der IT-Unternehmer Chris Pointon rechnete den Energiebedarf von ChatGPT hoch und kam auf einen Schätzwert von 11.870 kWh pro Tag – und dies nur für den laufenden Betrieb, das Modelltraining noch nicht eingerechnet.

Unabhängig davon, wie nahe Pointon dem realen Wert kam: KI braucht Rechenpower – in rauen Mengen. Laut IEA-Schätzung machen Rechenzentren und das Internet je 1,0 bis 1,5 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs aus – und das mit stark steigender Tendenz. „Nachhaltigkeit“, bringt es Ari Albertini, Co-CEO des Münchner Softwarehauses Ftapi, auf den Punkt, „ist für die gesamte Gesellschaft zum elementaren Thema geworden. Sie mit den Chancen der Digitalisierung zu verknüpfen, wird eine der zentralen Herausforderungen sein.“ Ein eskalierender KI-Einsatz könnte dieses Problem verschärfen.

Ungleichverteilung

Last but not least: Von den Vorteilen der „Future of Work“, wie die IT-Branche sie anpreist, profitieren die Menschen in sehr unterschiedlichem Maße. Zum Beispiel erzählte die Psychologin Marisa Arat kürzlich auf Linkedin, ihre Familie komme aus der Gastronomie, um fortzufahren: „In der Gastronomie sind alle typischen Linkedin-Diskussionen irrelevant. Keine Vier-Tage-Woche, keine Workations, kein Home-Office, feste Arbeitszeiten.“ Rasante Digitalisierung hat längst – selbst ohne Mithilfe durch Facebooks bislang müde dümpelndes Metaverse – für zwei Parallelwelten gesorgt: Digitalisierungsprofiteure hier, alle anderen dort.

Diese Spaltung birgt enormen sozialen Sprengstoff. Das Risiko: KI könnte die digitale Schere radikal vergrößern, nicht zuletzt durch viele neue Arbeitslose, deren Aufgaben ein Bot schneller und effizienter erledigen kann – ohne dazu erst ins Ausland jetten zu wollen, denn Chatbots sind genügsam und wasserscheu. Die Hoffnung hingegen ist, dass generative KI helfen könnte, die Kluft zwischen den Parallelwelten zu verringern, sind doch Einsatzfälle quer durch sämtliche Branchen denkbar: „ChatGPT, mach’ mal die Rechnung für Tisch 14 fertig! Sechs Pils und vier Caipis. Aber bitte mit Bewirtungsbeleg! Die beiden Herrschaften sind hier schließlich auf ‚Workation‘.“

Weitere Informationen
Das vollständige Interview mit DFKI-Forscher Burchardt findet sich hier.


  1. Parallelwelten
  2. Dichter und Definierer
  3. Arbeiten und arbeiten lassen

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