Künstliche Intelligenz wird als eine der bahnbrechendsten Technologien unserer Zeit gefeiert – doch was steckt wirklich dahinter? Markus Nispel, CTO EMEA bei Extreme Networks, erklärt im Interview, wie KI unsere Gesellschaft, Unternehmen und Netzwerksicherheit verändern wird.
connect professional: Viele reden drüber, aber jeder versteht etwas anderes darunter: KI. Was verbinden Sie mit dem Thema Künstliche Intelligenz? Zum einen in Ihrer Funktion bei Extreme Networks, zum anderen als Privatperson Markus Nispel – oder gibt es hier keine Unterschiede?
Markus Nispel: Meine Sichtweise auf Künstliche Intelligenz ist die gleiche – sowohl privat als auch in meiner Rolle bei Extreme. Für mich ist KI eine sogenannte General Purpose Technology, GPT, ein Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften. Er beschreibt Technologien wie die Dampfmaschine, die Elektrizität, das Internet oder Breitband, die alle die Gesellschaft, die Menschheit und die Wirtschaft tiefgreifend verändert haben. KI wird einen ähnlichen Umbruch bewirken. Sie ist gegenwärtig die beeindruckendste und einflussreichste Technologie. Die Geschwindigkeit, mit der sie sich weiterentwickelt, ist atemberaubend. Im Unterschied zu früheren bahnbrechenden Technologien hat heute die breite Öffentlichkeit erstmals direkten Zugang dazu. Sie kann den Fortschritt in Echtzeit verfolgen und ist oft vertrauter damit als Unternehmen. Das hat es so in der Geschichte noch nicht gegeben. Niemand kann KI ignorieren – und das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Trotz neuer Herausforderungen und Risiken bietet künstliche Intelligenz enorme Chancen für die unterschiedlichsten Bereiche, nicht nur für spezifische Anwendungen, einen Markt oder eine bestimmte Branche.
connect professional: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach Künstliche Intelligenz in der zukünftigen Entwicklung von Unternehmen, insbesondere im Bereich der Automatisierung?
Nispel: Eine große! Unser Ziel beim Einsatz von KI bei Extreme Networks ist es, jede Erfahrung unserer Kunden und Partnern zu überdenken. Dazu gehört auch die Automatisierung von Schritten innerhalb eines bestimmten Prozesses und einer User Journey oder ganzer Prozesse – insbesondere, wenn diese sich wiederholen oder aufgrund menschlicher und manueller Eingriffe fehleranfällig sind. KI-Tools, die Agenten verwenden, können viel intelligenter sein als die herkömmliche robotergestützte Prozessautomatisierung (Robotic Process Automation, RPA) und sie können auf unvorhergesehene Situationen innerhalb der Automatisierungsschritte selbst reagieren, was sie viel flexibler und vielseitiger werden lässt.
Wir nennen unseren Ansatz das ARC-Framework. A steht für Acceleration: Wir können Prozesse beschleunigen und effizienter gestalten, aber das ist noch nicht alles. Einige Schritte innerhalb eines Prozesses können ersetzt werden. Oder der gesamte Prozess kann durch den Einsatz von KI neu definiert werden – R, wie Replacement. Und KI ermöglicht es, neue Erfahrungen – C, wie Creation – zu machen, die vorher nicht möglich waren. Aber es wäre ein Fehler, KI nur auf die Automatisierung von Prozessen zu beschränken. Das Potenzial geht weit darüber hinaus. In den kommenden Jahren wird die künstliche Intelligenz zweifellos auch in Bereichen wie Sicherheit, Robotik, Werkstoffkunde und Biotechnologie große Fortschritte aufzeigen.
Eine kürzlich von Extreme durchgeführte Umfrage unter CIOs1 und IT-Entscheidern ergab, dass zwar 84 Prozent der Befragten damit begonnen haben, KI in ihre Technologiepakete zu integrieren, aber ein Drittel (32 Prozent) gaben auch an, dass sie noch keinen signifikanten ROI durch KI festgestellt haben. Darüber hinaus fügten 39 Prozent hinzu, dass ihre KI-Implementierung aufgrund der Anforderungen des Managements überstürzt wurde, und 30 Prozent gaben an, dass ihre Mitarbeitenden nicht die erforderliche Schulung oder die entsprechende Anleitung erhalten haben, um diese neuen Technologien bestmöglich zu nutzen. Tatsache ist, dass sich die KI zwar schnell weiterentwickelt hat, die Schulung der Mitarbeiter jedoch nicht so zügig vonstattenging und Komplexität sich nicht einfach so wegautomatisieren lässt. Daran muss gearbeitet werden.
connect professional: Wie kann KI konkret zur Verbesserung der Netzwerksicherheit beitragen?
Nispel: Sicherheit ist ein zentrales Thema, insbesondere angesichts der zunehmenden Cyber-Bedrohungen. Unternehmen, die sich weiterhin nur auf traditionelle Sicherheitsmaßnahmen wie beispielsweise Firewalls verlassen, gehen ein hohes Risiko ein. KI kann hier einen großen Unterschied bedeuten. Zero-Trust-Lösungen nutzen bereits Automatisierung, um Anwendungen und Benutzerrechte zu überwachen und Sicherheitsrichtlinien durchzusetzen. Der Einsatz von KI ist der nächste Schritt zur Verbesserung dieser Lösungen. KI trägt dazu bei, die Sicherheit der Netzwerke zu optimieren, indem sie Richtlinien optimiert, Angriffsflächen gemäß den Zero-Trust-Prinzipien verringert und Bedrohungen proaktiv identifiziert. Die Technologie kann Anomalien und ungewöhnliche Aktivitäten im Netzwerk in Echtzeit analysieren und feststellen, ob ein Problem vorliegt, bevor ein Alarm an die Netzwerkadministratoren gesendet wird. Dies hilft Unternehmen, Sicherheitsvorfälle oder potenzielle Leistungsprobleme schneller zu erkennen und zu beheben und gleichzeitig die Netzwerksicherheit kontinuierlich zu verbessern.
connect professional: Wie genau gestaltet sich Extreme Networks' KI-Reise?
Nispel: Unsere KI-Reise bedeutet kontinuierliches Lernen und Anpassen, basierend auf den realen Anforderungen unserer Kunden. Wir glauben fest daran, dass KI das Fundament für zukünftige Innovationen im Netzwerkmanagement bildet und sind entschlossen, sie allen zur Verfügung zu stellen – unabhängig von der Unternehmensgröße. Denn wir halten uns an das, was wir selbst predigen. KI ist für uns kein Werkzeug, kein Produkt – sondern bietet vielmehr die Möglichkeit, jede Erfahrung, die wir unseren Partnern, Kunden und Anwendenden bieten, neu zu definieren.
„KI ist kein technologischer Selbstzweck. Use Case und ROI sollten an erster Stelle stehen.“ |
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connect professional: Wie können Unternehmen zwischen wirklich transformativen KI-Lösungen und bloßem Marketing-Hype – Stichwort AI-Washing – unterscheiden?
Nispel: KI ist kein technologischer Selbstzweck. Use Case und ROI sollten an erster Stelle stehen. Ob dieser sich in höherer Effizienz und geringeren Kosten, höherer Kundenzufriedenheit und Kundenbindung oder in der Erschließung eines neuen Marktes ausdrückt – der ROI steht an erster Stelle. Bei einer KI-Anwendung würde ich Unternehmen nicht raten, mit den niedrig hängenden Früchten oder einfachen Prozessen zu beginnen. Mein Rat an die Unternehmen: Identifizieren Sie den Use Case, der Ihnen am meisten Kopfzerbrechen bereitet. Das kann auch ein komplexer Prozess sein, der sich auf den ersten Blick nicht automatisieren lässt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass gerade diese KI-Implementierung den schnellsten Return on Investment erbringt.
Wenn man komplexe Prozesse automatisieren möchte, stößt man oft auf Datenprobleme. Das ist nicht unbedingt etwas Negatives, denn es zwingt dazu, die Komplexität der Prozesse und die gewachsene Struktur eines Unternehmens zu durchleuchten. Entscheidend ist, wie man damit umgeht, denn es hat in jedem Fall massive Auswirkungen auf die Unternehmenskultur, die organisatorischen Abläufe und die Art und Weise wie Daten im Unternehmen verarbeitet werden. KI muss von einem angemessenen Change Management begleitet werden, das Akzeptanz, Wissen, Eigenverantwortung und letztlich Enthusiasmus für die neuen Möglichkeiten fördert.
connect professional: Wie wird Künstliche Intelligenz Ihrer Meinung nach verändern, wie Netze in Zukunft verwaltet und optimiert werden?
Nispel: Radikal. Wie gesagt: Die positive Nutzererfahrung steht im Mittelpunkt unseres Handelns. Das bedeutet zum Beispiel, dass neue Netzwerkadministratoren in Zukunft nicht mehr wochen- oder gar monatelang eingearbeitet werden müssen. Stattdessen werden sie in kürzester Zeit in der Lage sein, neue Anwendungen und Komponenten in der Netzinfrastruktur zu implementieren, zu verwalten und zu überwachen. Treten Fragen auf, beantwortet die KI diese validiert und zuverlässig. Die Netzwerktechnologie läuft nahezu unbemerkt im Hintergrund. „Security by Design“ sorgt dafür, dass durch die Verlagerung von Aufgaben auf die Technologie keine neuen Risiken entstehen, sondern ein Höchstmaß an Sicherheit gewährleistet werden kann. Das gilt beispielsweise für das Patchen und die Integration neuer Geräte. Die selbstlernende KI identifiziert kontinuierlich Optimierungspotenziale und setzt diese nach Möglichkeit direkt um. Da Multiagentensysteme und agentenbasierte Workflows immer robuster und zuverlässiger werden, können sie immer mehr Aufgaben übernehmen. Die Entwicklung wird dem Weg des autonomen Fahrens folgen, bei dem Technologie und Nutzerakzeptanz Hand in Hand gehen. So können Netzwerkadministratoren zunehmend Aufgaben an KI übergeben und sich auf strategische Entscheidungen konzentrieren.