2025 wird digitale Barrierefreiheit Pflicht: Was wir jetzt schon dafür tun können, um die Hürden des digitalen Alltags möglichst klein zu halten – und warum davon alle profitieren.
Der Artikel beantwortet unter anderem folgende Fragen:
Am Anfang versprach das Internet die absolute virtuelle Freiheit. Doch wer sich heutzutage im digitalen Raum bewegt, stößt nicht selten an lästige Grenzen. Etwa, wenn ein Formularfeld erst nach Eingabe der richtigen Zeichenfolge abgesendet werden darf. „CAPTCHA“1 heißen diese kleinen Hürden, die von Website-Betreibenden eingebaut werden, um zu überprüfen, ob tatsächlich ein Mensch oder ein automatisierter Bot am Computer sitzt. Was für den Host ein beliebtes Mittel ist, um unliebsamen Spam auszusieben, wird mitunter zum Problem für die User: Studien der Universität Stanford2 zeigen, dass viele Menschen Probleme haben, die Mini-Turing-Tests auf Anhieb fehlerfrei zu bestehen. So mancher wird aus eigener Erfahrung bestätigen können, dass solch ein digitales Rätsel schon mal ungelöst bleibt.
CAPTCHAs sind Barrieren, die bewusst in Kauf genommen werden. Für ihr Ziel einer digitalen Anfrage oder eines Online-Einkaufs finden sich Nutzerinnen und Nutzer mit dieser in den meisten Fällen überwindbaren Hürde ab. Doch was ist, wenn unüberwindbare Grenzen den Weg in die digitale Welt versperren? Tagtäglich sind wir in der digitalen Welt vielfältigster Erschwernisse ausgesetzt: Manchmal ist der Text zu klein oder das Icon nicht dechiffrierbar, andernorts sind Kontraste zu gering oder Texte schwer verständlich. Die digitalen Barrieren finden sich nahezu überall und gestalten sich häufig sehr individuell – seitens der Websites, aber auch auf Seiten der Anwendenden.
Am 28. Juni 2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, kurz BFSG3, in Kraft. Vereinfacht sagt es aus, dass alle Website Betreibenden zu diesem Zeitpunkt ein barrierefreies digitales Angebot vorweisen müssen, sofern sie bestimmte Leistungen anbieten. Hierzu zählen sowohl das Bereitstellen einer Kontaktfunktion als auch der gesamte B2C-E-Commerce-Bereich. Wohlgemerkt auf allen digitalen Endgeräten: ganz gleich ob Website, Tablet, Smartphone oder (mit 15 Jahren Übergangsfrist) auch Selbstbedienungsterminals.
Was mitunter als regulatorische Gängelei interpretiert wird, ist vielmehr gelebte Inklusion – und damit ein wichtiger Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit. In Deutschland besitzen rund 9,4 Prozent der Menschen (also circa 7,8 Millionen Individuen) einen Schwerbehindertenausweis. Fast 1,5 Millionen Menschen im Alter bis 55 Jahren. Viele von ihnen nehmen trotz ihrer Einschränkung aktiv am Leben teil, ohne dass Mitmenschen diese wahrnehmen. Anderen fällt dies aus den unterschiedlichsten Gründen sichtbar schwer. Alle gemeinsam haben ein staatlich anerkanntes Handicap, welches es verdient, auf angemessene Art und Weise berücksichtigt zu werden. Selbstverständlich und insbesondere auch in der digitalen Welt; ist sie doch häufig unverzichtbare Informationsquelle und wichtiger Kommunikationskanal für Menschen, die nicht aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Das BFSG setzt auf Basis des European Accessibility Acts (EAA) den regulatorischen Rahmen, um die deutsche digitale Welt inklusiver zu gestalten und mehr Menschen eine umstandslose Nutzung zu ermöglichen. Damit sorgt das Gesetz gleichzeitig für so viel mehr: nämlich nutzbare digitale Touchpoints für alle Menschen.
Denn man muss nicht schwerbehindert sein, um unter visuellen, auditiven oder motorischen Barrieren zu leiden. Nicht immer sind diese permanent. Auch zahlreiche temporäre oder situative Einschränkungen finden wir in unserem Alltag. Wer beispielsweise über visuelle Einschränkungen nachdenkt, fasst sich vielleicht an die eigene Nase: 67 Prozent der Deutschen tragen eine Brille. In Anbetracht der Tatsache, dass mehr als 38 Prozent sie ständig tragen, scheint die native Unterstützung einer Zoom-Funktion zu den essenziellsten Bedienungshilfen zu gehören.
Doch auch blendendes Sonnenlicht oder ein Riss im Smartphone-Display können – in diesem Fall temporär und situativ – zu Handicaps werden, welche unter Umständen bei der Planung und Umsetzung digitaler Touchpoints berücksichtigt werden sollten. Barrierefreie Onlineshops und blindenfreundliche Touch-Terminals mögen noch die ein oder andere konzeptionelle Herausforderung darstellen. Frühzeitig mitgedacht ist Barrierefreiheit jedoch eine wertvolle und notwendige Entwicklung: Wer barrierefreie Digitalität fördert, investiert in die Zufriedenheit aller – auch „gesunder“ oder weniger eingeschränkter – Kundinnen und Kunden. Studien zeigen: Je nützlicher, einfacher und zugänglicher ein digitales Produkt für Anwendende ist, desto lieber werden sie dieses nutzen. Dies gilt selbstverständlich ebenso für digitale Prozesse wie beispielsweise in einem E-Commerce-Shop. Man muss nicht zu den Kaufleuten gehören, um zu erahnen: Mehr zufriedene Kundinnen und Kunden generieren schlussendlich auch mehr Umsatz.
Im Kontext von Websites bedeutet Barrierefreiheit, dass das Interface so gestaltet und programmiert sein muss, dass die Seite von Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen problemlos wahrgenommen, bedient und verstanden werden kann. Dieses Konzept spielt insbesondere im Bereich des User Experience (UX)-Designs eine bedeutende Rolle und wird oft mit dem englischen Begriff „Accessibility“ beschrieben.
Zur Bewertung der Zugänglichkeit werden häufig die „Vier Prinzipien der Barrierefreiheit“ (Four Principles of Accessibility)4 herangezogen: wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust. Diese lassen sich wie folgt erklären:
Die Einhaltung dieser vier Prinzipien gewährleistet, dass die Website für alle Nutzer, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten und technischen Voraussetzungen, zugänglich ist.
Die Bewertung der Barrierefreiheit findet in den Stufen A bis AAA statt und wird von der Web Accessability Initiative (WAI)5 festgelegt. Sie beschreiben das Maß der Barrierefreiheit, wobei AAA die beste Zugänglichkeit bietet und auch stark eingeschränkten Nutzerinnen und Nutzern eine akzeptable Interaktion ermöglicht. AAA ist insbesondere relevant für den Öffentlichen Sektor. Unternehmen, die den AA-Standard erfüllen, haben bereits eine Vielzahl von Barrieren abgebaut und deshalb gute Chancen, auch den Anforderungen des BFSG zu entsprechen.
Für alle Anbieter empfiehlt es sich, in einem ersten Schritt die eigenen digitalen Touchpoints von Menschen analysieren zu lassen, die auf Barrierefreiheit und das BFSG spezialisiert sind. Diese Maßnahme deckt kurzfristig Schwachpunkte auf und legt Handlungsempfehlungen nahe. Auf Basis dieser Analyse sollten inhaltliche, gestalterische und technische Anforderungen definiert und umgesetzt werden.
Für Unternehmen ist es wichtig, bis Mitte 2025 den gesetzlichen Anforderungen des BFSG gerecht zu werden. Gleichzeitig erscheint dieser Zeitpunkt auch als gute Chance, den Nachhaltigkeitszielen, die sich viele Unternehmen auferlegt haben, konsequenter zu entsprechen als bisher.
Durch die Gewährleistung eines inklusiven Zugangs zu digitalen Inhalten und Dienstleistungen erreichen Unternehmen nicht nur eine deutlich breitere Zielgruppe, sondern übernehmen auch aktiv soziale Verantwortung. Und tragen damit zu den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen6 bei.
Jens-Michael Blümel, Bereichsleiter User Experience & Brand Strategy bei Adesso SE
1 de.wikipedia.org/wiki/Captcha
2 web.stanford.edu/~jurafsky/burszstein_2010_captcha.pdf
3 https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/barrierefreiheitsstaerkungsgesetz.html
4 https://www.w3.org/WAI/WCAG21/Understanding/intro#_blank
5 https://www.w3.org/WAI/
6 https://unric.org/de/17ziele/