Die verbreitete These, die Digitale Zwillinge würden in der Produktion bereits flächendeckend eingesetzt, ist – Stand heute – gewagt. Dennoch: Die Technologie wird die Industrie nachhaltig verändern. Bei der Umsetzung stehen die Unternehmen allerdings vor einigen Herausforderungen.
Der Artikel beantwortet unter anderem folgende Fragen:
Seinen Ursprung hat der Digitale Zwilling im Jahr 2002: Michael W. Grieves stellte der US-amerikanischen Society of Manufacturing Engineering ein Konzept vor, mit dem bestenfalls Experten aus der Luft- und Raumfahrt etwas anfangen konnten: Objekte der realen Welt werden über einen bidirektionalen Datentransfer mit ihrem Pedant im virtuellen Raum verknüpft. Erst 2010 prägte John Vickers von der NASA schließlich den Namen „Digitaler Zwilling“. Seitdem hat die Bezeichnung eine steile Karriere hingelegt – kein Wunder in einer Industrie, die sich die vollständig digitalisierte Produktion zum Ziel gesetzt hat. So nutzen laut einer Studie des Branchenverbands Bitkom1 bereits 44 Prozent der deutschen Fertigungsbetriebe die Technologie in irgendeiner Form. 63 Prozent sind sogar davon überzeugt, dass Digitale Zwillinge für das Überleben im internationalen Wettbewerb unverzichtbar sind. Auch wenn andere Analysten nicht ganz so enthusiastisch sind – Branchen wie Automobil, Maschinenbau oder Elektronikindustrie arbeiten mit Hochdruck daran, sich die Technologie für ihre Wertschöpfungsketten nutzbar zu machen.
Im einfachsten Fall ist ein Digitaler Zwilling das virtuelle Abbild einer Maschine. Er kann jedoch auch eine komplette Fertigungsstraße mit allen Anlagen und Geräten umfassen. Ein kontinuierlicher Strom von Sensordaten aus der Produktionsumgebung stellt dabei sicher, dass der Zwilling stets auf dem neuesten Stand ist. Auf diese Weise sind detaillierte Einblicke in die gesamte Produktion möglich, ohne dass die Verantwortlichen die Fertigungshalle betreten und Maschinen überprüfen müssen. Ihr volles Potenzial entfaltet die Technologie aber erst, wenn Daten aus der Produktionsüberwachung als Input für eine virtuelle Inbetriebnahme dienen oder die Ursachen von Fehlern aus der Qualitätskontrolle im Digitalen Zwilling gefunden und die Parameter für die zukünftige Produktion entsprechend angepasst werden. Zudem können Unternehmen Produktionsumstellungen auf andere Modelle oder kleinere Serien vorab durchspielen sowie die Fertigung eines Einzelstücks auf verschiedenen Fertigungsstraßen simulieren und dann die dafür am besten geeignete Maschine auswählen. Die Königsdisziplin ist schließlich ein bidirektionales System, bei dem der Digitale Zwilling sich nahezu vollständig selbst steuert.
Die verschiedenen Arten dieser Technologie funktionieren allerdings nur, wenn die Sensordaten aus der Produktion schnellstmöglich übertragen und ausgewertet werden. 5G und Edge Computing sind neben Künstlicher Intelligenz deshalb die Schlüsseltechnologien für die Umsetzung von Digitalen Zwillingen. Die Datenverarbeitung direkt vor Ort verhindert Verzögerungen, die bei der Übertragung in ein zentrales Rechenzentrum oder die Cloud unweigerlich entstehen. Alle zeitkritischen Analysen werden auf Systemen am Edge durchgeführt – nur für die langfristige Speicherung der Daten und Ergebnisse oder weniger eilige Auswertungen erfolgt eine Übertragung. In der Produktionsumgebung selbst sorgt der aktuelle Mobilfunkstandard mit seiner großen Bandbreite und ultra-niedrigen Latenz für verzögerungsfreie Übertragungen. So kommen die Daten nicht nur blitzschnell bei den Digitalen Zwillingen an, sondern deren Erkenntnisse und Anweisungen werden auch umgehend zurückgespielt, sodass die Maschinen nahezu in Echtzeit auf Ereignisse reagieren können.
Bei der Realisierung eines Digitalen Zwillings spielen die Qualität und Verfügbarkeit der Daten eine zentrale Rolle. Zunächst müssen die relevanten Informationen erfasst, wofür verschiedene Sensoren und IoT-Konnektoren zum Einsatz kommen, und an zentraler Stelle zusammengeführt werden. Parallel dazu wird ein Modell des realen Objekts erstellt, mit dessen Hilfe Simulationen durchgeführt werden können, um das Verhalten unter verschiedenen Bedingungen zu analysieren. Das virtuelle Abbild wird dann mit Echtzeitdaten über Zustand, Leistung, Umgebungseinflüsse oder Verhaltensmuster „gefüttert“. Nur so ist eine fortlaufende Überwachung möglich, um frühzeitig auf mögliche Probleme oder Störungen hinzuweisen. Schließlich ermöglicht die Analyse der Daten des Digitalen Zwillings das Erkennen von Mustern, Trends und Zusammenhängen.
Die Realität sieht jedoch oft anders aus: Für das überwachte Lernen beispielsweise, mit dem sich Fehler präzise identifizieren lassen, fehlt es in der Regel nicht nur an ausreichend großen Datenmengen, sondern auch an Kontext. Das heißt, die verfügbaren Informationen sind nur ein Spiegelbild der speziellen Einsatzbedingungen, unter denen sie erfasst wurden. Hinzu kommt, dass die von den Sensoren gelieferten Betriebs- und Umgebungsdaten aus der realen Welt aggregiert und mit weiteren Informationen aus dem Unternehmen wie Stücklisten, Konstruktionsspezifikationen oder Protokolle von Kundenbeschwerden kombiniert werden müssen. Auch hier besteht in der Praxis noch erheblicher Nachholbedarf.
Vor der Aufbereitung und Verarbeitung der Daten sollten die Industriebetriebe jedoch einen Schritt zurücktreten und erst einmal grundlegende Fragen klären. Ziel ist ein gemeinsames Verständnis über Art und Umfang des Digitalen Zwillings. Oder anders formuliert: Geht es nur um ein gerendertes, bewegtes 3D-Modell oder um einen realen Anwendungsfall wie die virtuelle Inbetriebnahme einer Produktionslinie mit Anlagen verschiedener Hersteller? Problematisch wird der Einsatz von Digitalen Zwillingen immer dann, wenn ganze Fertigungsstraßen oder Fabriken abgebildet werden sollen. In der Industrie sind in der Regel unterschiedlichste Systeme, Plattformen und Geräte im Einsatz, die miteinander kommunizieren müssen, was wiederum ohne eine weitgehende Standardisierung und Interoperabilität nicht funktioniert. Die Notwendigkeit der Interoperabilität – in diesem Fall einer semantischen Interoperabilität – betrifft aber auch die Teilmodelle, da nur so eine zentrale, einheitliche und konsistente Lösung für die alltäglichen Herausforderungen realisiert werden kann. Derzeit fehlen jedoch durchgängige industriespezifische Standards für die Abbildung des Digitalen Zwillings über den gesamten Lebenszyklus hinweg – auch wenn es mit OpenUSD für die grafische Darstellung und der sogenannten Asset Administration Shell (AAS) erste vielversprechende Initiativen gibt.
Sobald der Digitale Zwilling mit seinem realen Pendant gekoppelt ist – also nicht nur Planungs- und Simulationszwecken dient –, liegt eine weitere große Herausforderung in der Synchronisation der virtuellen mit der realen Umgebung. Bewusste, aber auch unbewusste Veränderungen der Fertigungsanlagen müssen in Echtzeit im Digitalen Zwilling erfasst werden. Das bedeutet in der weiteren Konsequenz, dass selbst dort Daten erfasst werden müssen, wo bislang keine dezidierte Sensorik aktuelle Zustandswerte liefert.
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Ein ganz anderes Thema sind die Mitarbeitenden. Auch in Zeiten zunehmender Digitalisierung bleibt ihre Akzeptanz ein kritischer Faktor für den Erfolg eines Projekts. Gerade wenn KI im Spiel ist, kommen Ängste auf, dass Arbeitsplätze durch Automatisierung gefährdet sind. Digitale Zwillinge werden heute vor allem im Bereich der Planung und Simulation eingesetzt, betreffen also nur wenige, für die der Nutzen zudem greifbar ist. In einem anderen Einsatzszenario – dem Training an virtuellen Geräten und Anlagen – überwiegen ebenfalls die Vorteile, da die Gefahr, Schäden an der realen Anlage zu verursachen, mit einem Digitalen Zwilling wegfällt. Da die vollständige Kontrolle einer Umgebung mit Hilfe dieser Technologie in der Regel eine Zukunftsvision ist, ist auch die gefühlte Bedrohung aktuell kein Thema.
Fakt ist: In der Fertigungsindustrie findet eine digitale Umwälzung statt, die Betriebsabläufe grundlegend verändert und eine integrierte Sicht auf Anlagen, Systeme und Prozesse erfordert. Digitale Zwillinge sind ein wesentlicher Bestandteil dieser Neuausrichtung und ihre Möglichkeiten nahezu unbegrenzt.
1 https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Digitale-Zwillinge-Industrie-Standard